Von Rosemarie Zöllick,
die am 08.04.1925 als Tochter des Baumeisters Paul Knobloch in Bischofsburg geboren wurde und bis 1945 in der Klefeldtstraße 12 wohnte. Der Vater besaß ein Baugeschäft für Hoch-, Tief- und Eisenbetonbau.
Vorgeschichte
Nachdem ich im April 1944 bis 19. Januar 1945 als Praktikantin in der "Roten Apotheke" in Insterburg die ersten Monate der Vorbereitung auf meinen Wunschberuf: Apothekerin hinter mir hatte, erreichte auch uns in der Apotheke der Räumungsbefehl. Bis dahin hatten wir die deutsche Front mit Medikamenten und Verbandmaterial versorgt.
Die Assistentin und ich, wir eilten mit unseren ewig gepackten Köfferchen zum Insterburger Bahnhof, wo schon Chaos herrschte. Menschen drängelten und kämpften um einen Platz in einem der letzten Züge. Ich erwischte einen Stehplatz und fuhr Richtung Königsberg; dort umgestiegen, gings's Richtung Rothfließ - Allenstein. Ich landete tatsächlich zu Hause in Bischofsburg, wo dann auch bald die Sirenen das Unabänderliche ankündigten und die ersten Bomben fielen. Das war der 20. Januar 1945.
Am 21.01.1945 erschien ein Mann bei uns zu Hause und befahl uns, zum Bahnhof zu gehen. Die russische Front war nahe, der letzte Zug nach Nordostpreußen stand bereit. Und so begann unsere Flucht.
Flucht
Kurz vor Heilsberg hielt der vollbesetzte Zug, es kam der Befehl: Alles aussteigen, unter den Zug! So lagen wir wie die Heringe dicht an dicht auf den Schienen, und russische Flugzeuge brausten über uns hinweg. Neben mir lag meine ehemalige gute und verehrte Lehrerin aus der Volksschule Fräulein Friedrich. Nun hieß es wieder: Einsteigen! Und wir waren bald in Heilsberg, das schon umkämpft wurde. In einem Luftschutzkeller kauerten wir bald eng beieinander auf dem Fußboden. Dann war die russische Sprache zu hören, es knallte in dem Kellergang, und ich erinnere mich nur, dass meine Mutter ihren Mantel auszog, mich damit zudeckte und sich auf meinen Rücken setzte, meine neunjährige Schwester saß auf meinen Beinen. Dann nahmen uns die Russen Uhren, Ringe und Schmuck ab und holten einige Frauen heraus. Oh, ich blieb verschont! So harrten wir Stunden in Angst aus, bis es draußen ruhiger wurde. Der Sturm war vorüber, nur noch entferntes Schießen. Gegen Abend verließen wir den Keller und suchten ein Nachtquartier in einer Gartenkolonie, in einer Laube. Dort saßen wir die Nacht über, hungrig und halb erfroren. Im Morgengrauen suchten wir die Straße nach Bischofsburg. Überall hörte und sah man betrunkene Russen, manche hantierten mit den Gewehren, aber wir hatten Glück, davonzukommen. Einmal hörten wir: "Idi domoy!" (geht nach Hause!). Das taten wir ja auch, eine ganze Woche lang, zu Fuß, übernachteten in verlassenen Bauerngehöften, die abseits der Straße lagen. Russenautos fuhren vorbei, aber ließen uns in Ruhe. So erreichten wir Bischofsburg Ende Januar 1945.
Zu Hause und doch nicht zu Hause
Über Feldwege suchte meine Mutter mit uns den Bauernhof eines ehemaligen Arbeiters unseres Baugeschäftes auf, der uns auch eine Woche beherbergte, aber Angst vor streunenden russischen Soldaten hatte, die uns und auch seine Familie erschießen würden. Deshalb wanderte meine Mutter zunächst allein nach Bischofsburg zu unserem Haus und fand dort die russische Kommandantur vor. Ein deutsch sprechender russischer Offizier verwehrte ihr den Eintritt, wies ihr aber ein Zimmer im Klomfaß'schen Haus in der Herrmannstraße zu. Dort wohnten wir vier Personen dann den Februar über. Meine Mutter versuchte immer wieder, in unser Haus zu kommen, und eines Tages kam sie glücklich zurück: Wir konnten die kleine Bodenwohnung beziehen, in der vorher eine aus Berlin evakuierte Familie gewohnt hatte. Ich bezog sofort eine Kammer hinter einer Tapetentür und versteckte mich, wenn es an der Wohnungstür klopfte. Aber nicht lange! Meine Anwesenheit war ja bekannt, und die Kommandantur suchte Arbeitskräfte zum Aufräumen in der Stadt. Meine Mutter wurde bedroht, und so musste ich mein Tapetentürenasyl verlassen und mich melden. Treffpunkt war das ehemalige Katasteramt in der Herrmannstraße.
Februar - März 1945 in Bischofsburg
Arbeitsgruppen wurden aufgestellt. Wir mußten Schnee schippen, auf dem Markt Trümmer räumen und Holz und Kohlen besorgen, die teilzerstörte Apotheke nach Brauchbarem durchsuchen, im ehemaligen Guskischen Speicher Getreide schaufeln. Wir wurden bei den Arbeiten immer von Russen bewacht und kontrolliert, durften zur Nacht jedoch nach Hause gehen. Mitte März 1945 kam die Wende. Als wir eines Abends nach Hause gehen wollten, sperrten die russischen Bewacher uns in Büros des ehemaligen Katasteramtes, und bald ging es mit Verhören los. Uns war nichts klar. Wir hatten doch gearbeitet, und es war nichts passiert. Warum??? Ich wurde auch gerufen, in russischer Sprache las man mir etwas vor, wovon ich nur die Worte "Nazi, Kapitalist" verstand. Danach wurde ich nach draußen auf den Hof geführt und mit mehreren anderen an die Wand gestellt. Der Vollmond erhellte meinen Standort, und ich nahm Abschied mit einem Blick Richtung zu Hause - Klefeldtstraße. Ein russischer Soldat mit einer Maschinenpistole nahm uns gegenüber Aufstellung und bewachte uns, wartete scheinbar auf das Kommando. Doch plötzlich erschien ein Offizier, sagte etwas, der Soldat führte uns ins Haus zurück und sperrte uns wieder in ein Büro. Nicht lange, dann holte man mich heraus, und in gebrochenem Deutsch wurde mir gesagt, der Soldat brächte mich gleich nach Hause um Sachen und Verpflegung zu holen, denn wir müßten für zwei Tage zur Arbeit irgendwohin. Ich sollte aber mit niemandem unterwegs oder zu Hause sprechen. So marschierte ich mit dem Russen hinter mir nach Hause. Meine Mutter war erschrocken, der Bewacher stand überall hinter mir mit seinem Gewehr und bedrohte uns, sobald einer etwas sagen wollte. Als meine Mutter sich verabschieden wollte, stieß der Soldat sie weg und mich zum Ausgang. - In der Morgendämmerung wurden wir auf die Straße (Hermannstraße) geführt und abgezählt auf bereitstehende russische LKW geladen - alle bewacht -, die an meinem Zuhause vorbei Richtung Rößel-Rastenburg-Insterburg fuhren.
Insterburg - letzte Station
Ich kannte Insterburg gut und stellte gleich fest, dass wir im Gefängnis ausgeladen wurden. Wieder wurden wir gezählt und zu je 40 Personen in leere Zellen gesperrt. Wir saßen auf den Zementfußboden. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort waren. Aber am 25. März 1945 wurden wir zum Insterburger Güterbahnhof geführt, wo eine lange Reihe Waggons bereitstand, Viehwaggons, in die wir, wieder zu 45 abgezählt, verladen wurden. Die Waggons waren stinkig, schmutzig und leer bis auf eine schräge Holzrinne, die später als Toilette benutzt werden sollte.
So reisten wir gen Osten: Da die Waggons keine Fenster hatten, beobachteten wir den Sonnenaufgang durch Ritzen in den Wänden und konnten so die Fahrtrichtung feststellen. Täglich hatten wir von 100 g Brot, einem Würfelchen harten Käse, einem Teelöffel voll Zucker zu leben, und gegen den Durst gab es Wasser, das, wenn der Zug auf offener Strecke hielt, aus Tümpeln oder Flüssen geholt wurde. Trinkbecher gab es nicht. Manche hatten einen mit, der dann kursierte und oft Krankheiten verbreitete, so beispielsweise bald Durchfälle. An Haltepunkten des Zuges wurden die Toten herausgeholt , sie blieben einfach liegen.
So kamen wir, ungefähr 2000, in Tscheboksary, 800 km hinter Moskau an , es war der 11. April 1945.
Rosemarie Zöllick, geb. Knobloch