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Fluchtbericht
von Erich Reimann aus Bischofsburg

Geschrieben am 28.11.1945 in Liebenburg an seine Geschwister

Um den 20.1.1945 wurde es in Bischofsburg immer gefährlicher. Schon am Vormittag des 20.1.45 bemerkte ich mehrere russische Flieger. Ich sagte noch zu unserem Peter: "Wenn die nun auslösen, kann es uns schlecht ergehen", und im gleichen Augenblick krachte es auch schon um unseren Hof herum.


Die Bombensplitter zischten nur wenige Zentimeter über unseren Köpfen hinweg. Da der Hof voller Pulverrausch war, musste ich annehmen, dass Haus, Scheune oder die Ställe getroffen worden waren. Unsere Scheune hatte einen Volltreffer abbekommen und um unseren Hof und Feld herum lagen etwa 60 Brand- und ca. 20 Sprengbomben.

Das Schlimmste, was wir befürchteten, wurde nun zur traurigen Wahrheit. Wir konnten die Flucht nun nicht mehr aufschieben und in der Nacht vom 22.1. zum 23. 1. fuhren wir mit schweren Herzen los, denn es ist nicht einfach abzufahren und alles im Stich zu lassen.

Unsere Kühe hatten wir noch schnell von der Kette befreit und ihnen für einige Tage Futter vorgeworfen. Desgleichen auch den Hühnern und den Schweinen. Unseren treuen Hund haben wir aber nicht in Stich gelassen.

So sind wir dann mit zwei Wagen und drei Pferden abgefahren. Kurz vor Bartenstein haben wir übernachtet und fuhren dann in Richtung Landsberg weiter. Die Straßen waren voller Flüchtlingswagen und total verstopft, sodass wir schon teilweise über das Feld fahren mussten und zwei Tage bis Landsberg brauchten. Am nächsten Tag hatte der Russe Ostpreußen aber schon im Kessel und ich erfuhr, dass die russische Panzerspitze schon bis Pr. Holland vorgedrungen war und das war nun unser Ende.

Die Wehrmacht ließ uns nun nicht mehr weiterfahren, weil die Straßen von deutschen Truppen überfüllt waren, die einen Gegenangriff vorbereiteten. Es war ein unglaubliches Wirrwarr unter den Menschen und dazwischen immer wieder Luftangriffe der russischen Flieger, und niemand traute sich mehr aus seinem Versteck heraus. Auf dem Bauernhof waren mittlerweile 150 Menschen.

Wir warteten noch zwei Tage, teils auf unseren Tod und hörten, dass es noch einen Ausweg über Heiligenbeil geben sollte. Doch dann kam der erste Russe auf den Hof, total betrunken und sang uns die russische Internationale vor, war aber im Übrigen noch gemütlich.

Die Luftangriffe wurden immer schlimmer und wir saßen alle im Keller und baten Gott um Erlösung. Der Hof brannte, die Scheune, in der unsere Pferde, unser Hund und Flüchtlingswagen standen - alles verbrannte und Russen stürmten auf den Hof, und alle Flüchtlinge mussten sofort vom Hof verschwinden. Wir standen auf der Landstrasse Bartenstein/Landsberg mitten in der Artilleriestellung, wo deutsche Flieger in die russische Artillerie hineinzielten.

Irgendwann kamen wir in das Dorf Eichhorn, um in einem Keller etwas Schutz zu finden. Auf dem Weg dorthin sahen wir auf den Straßen und Feldern schon viele Tote. 3 Tage und drei Nächte saßen wir unter Beschuss, ohne Lebensmittel oder wenigstens etwas zu trinken. Am Abend haben wir uns einen Eimer Schnee gesammelt, um uns wenigstens etwas die Lippen zu befeuchten.

Es wurde etwas ruhiger, weniger Luftangriffe - und dann kam ein Russe in den Keller und wollte Mädels haben, schnappte sich eine 13-jährige und eine 15-jährige, vergewaltigte sie und ließ sie wieder laufen. Es dauerte nicht lange, da kam der gleiche Russe wieder, betrunken und wollte wieder ein bestimmtes Mädel haben, die sich jedoch weigerte. Vor Wut nahm er seine Maschinenpistole und lud sie durch. Wir sahen nun schon, was jetzt kommen würde, und es folgten Hilferufe zu Gott und wir baten und bettelten, der Russe möge doch nicht schießen. Auch unser liebes Schwesterlein bettelte nun den Russen, dass er doch nicht schießen möge. Er störte sich nicht und knallte so ungefähr 50 Schuss in den Keller. Nachdem der Russe fort war, fragte ich meine Frau: "Hast du etwas abgekommen?" Sie sagte: "Nein" - ganz leise "und du?" "Auch nicht!" Als eine Zeit vergangen war, kamen andere Russen und sagten, wer noch laufen kann, solle herauskommen zum Verbinden.

Mein liebes Schwesterchen lag auf einem toten alten Mann und sah aus wie eine Leiche. Auf einmal rief sie: "Erichen, hilf mir doch, Erichen, hilf mir doch, ich bin noch nicht tot"! Wir schwer es uns war, ließen wir uns nicht anmerken und sagten: "Aber Lottchen, es wird schon besser werden." Nun rief auch unser verletztes Tantchen nach uns und wir brachten beide in die Bauernstube auf Stroh und ein russischer Sanitätsfeldwebel gab uns tatsächlich Verbandstoff. Darauf wurde es Nacht und wir legten uns auf das Stroh zu Schwesterchen und Tantchen. Tantchen sagte noch: "Jetzt müssen wir alle sterben - aber so etwas, aber so etwas soll auch ein Mensch denken können." Schwesterchen bat mich: "Erichen, Erichen halt mich doch immer nur an der Hand, dann ist es mir etwas leichter." Als der Morgen kam, fragte Tantchen, ob Schwesterchen noch schläft und wir sagten: "Ja, sie schläft noch," und wussten dabei nicht, dass Gott sie schon zu sich gerufen hatte.

Dann kam ein Russe und sagte, dass innerhalb einer Stunde alle Deutschen den Hof verlassen müssen, wer noch da ist, wird erschossen. Was sollten wir nun tun. Ich hatte ein steifes Bein, konnte nur mit einem Stock gehen, mein Frauchen einen Bombensplitter im Arm vom Luftangriff in Bischofsburg, und der Arm dick geschwollen. Wir gaben Tantchen noch Wasser und Brot, das war alles was wir hatten und sagten, wir gingen ins Dorf, Pferd und Wagen zu holen. Das waren unsere letzten Worte und Blicke unserer Lieben und das Herz wollte uns brechen. Möge Gott Tantchen bald zu sich genommen haben. Mit unseren Lieben blieben auch noch andere schwer verletzte Personen zurück - ja es war einer der jammervollsten Tage.

Auf dem Weg in ein anderes Dorf lagen überall in den Gräben Flüchtlingswagen, tote Pferde und zerstückelte Leichen. Wir gingen nur immer weiter - es konnte uns jetzt nichts mehr erschüttern. Unsere Lieben hatten wir verlassen und danach war uns eigentlich alles egal. An einem Waldstück kam uns noch ein betrunkener Russe mit einem Messer in der Hand nachgelaufen und wollte uns erstechen. Dies sah ein russischer Reiter und wehrte den Betrunkenen ab und nahm ihm auch die Waffe ab. Er blieb noch eine Strecke bei uns, bis der Kerl nicht mehr zu sehen war. Den russischen Reiter hat uns Gott geschickt, denn ohne ihn - es wäre unser sicherer Tod gewesen. Gegen Abend erreichten wir dann die Ortschaft Ardappen bei Bartenstein und suchten im Keller eines abgebrannten Hauses Schutz für die Nacht.

Am Morgen kamen Russen und holten mich zum Verhör und fragten mich immer wieder, ob ich Soldat gewesen wäre. Ich hatte schon viele erzählen hören, dass Russen deutsche Kriegsversehrte erschossen haben und sagte immer nur: "Nein, nein -ich bin niemals Soldat gewesen, mein kaputtes Bein ist schon zehn Jahre alt und durch einen Unfall mit dem Pferdewagen entstanden.

Hier blieben wir dann ungefähr zehn Tage und dann mussten wir wieder alle weiter. Das Vergewaltigen der Mädchen und Frauen war hier an der Tagesordnung. Mein Frauchen konnte ich immer noch davor bewahren. Die Russen fragten immer, ob ich der Mann wäre. "Na, dann gut - dann andere!" Wer nicht mitging und sich weigerte, wurde meistens erschossen.

Von Bartenstein aus wollte ich mit meinem Frauchen zurück nach Bischofsburg. Sie war nun im fünften Monat schwanger und es schien uns für sie das Sicherste. Kurz vor Bartenstein wurde ich und zwei weitere Männer von russischen Soldaten gefangen genommen. Gretel wusste nun seit dem 21. Februar nicht mehr, was mit mir geschehen war und ich nicht, wo sie hingegangen war. Ich hoffte, da ich doch lahm war, dass mich die Russen wieder laufen ließen. Ein mitleidiger Russe, dem ich sagte, dass ich von meiner schwangeren Frau getrennt wurde, ging mit mir zu der Stelle, wo ich meine Gretel verlassen musste, aber ein russischer Posten sagte, die Frauen seien in Richtung Bischofsstein gegangen.

In der Gefangenschaft wurde ich immer wieder verhört, denn ich müsse doch in der Partei oder Offizier gewesen sein. Irgendwann hörten die Verhöre auf und es ging uns wieder sehr schlecht. Danach wurde es aber bald etwas besser. Wir bekamen genug zu essen, sogar alle acht Tage neue Wäsche und wir konnten sogar einmal in der Woche baden. Meine Arbeit bestand daraus, für zwölf Schweine Kartoffeln zu kochen, auch für deren Fütterung war ich verantwortlich. Danach brauchte ich gar nicht mehr arbeiten, sondern nur dabei sein, dass alles gut gemacht wird. Ich hatte also ein seltenes Glück. Danach sind wir mit den Russen noch bis Pr. Eylau mitgefahren und wurden am 15. April aus der Gefangenschaft entlassen. Sie gaben uns sogar noch für fünf Tage Verpflegung mit und sagten, wir sollten ruhig nach Hause gehen. Doch von Pr. Eylau waren es 70 km bis Bischofsburg. Ja, und ich dachte, wenn ich jetzt wüsste, wo meine Gretel war.

Mit einem 17-jährigen jungen Mann machte ich mich nun auf nach Bischofsburg. Wir waren noch nicht weit gekommen, da wurden wir von Russen ausgeraubt und hatten weder zu essen noch zu trinken. Als wir nach Tagen bis Bartenstein kamen, wurden wir dort wieder gefangen genommen und ins Zuchthaus gebracht. Hier waren ca. 4000 Menschen, alle wie die Heringe zusammen gestopft und wir hörten von Mitgefangenen, dass viele Menschen jeden Tag vor Hunger sterben.

Ich wurde jedoch nur verhört und wieder frei gelassen und kam am nächsten Tag bis Bischofsstein, wo es ruhig war, und ich blieb ca. vier Wochen auf einem Bauernhof. Ich hörte, dass in Bischofsburg bereits einige Bewohner gewesen waren, aber wieder zurück kamen, weil Bischofsburg fast gänzlich zerstört war. Ich konnte mir nun Pferd und Wagen besorgen und fuhr eine Woche vor Pfingsten nach Bischofsburg, wo ich in der Stadt eine leere Wohnung fand. Am nächsten Tag bin ich auf unseren Hof gegangen - ein sehr schwerer Gang - denn die Gebäude standen noch, aber alles war völlig leer. Kein Mensch, kein Rind, kein Tier. Aus der Wohnung fast alles ausgeraubt. Auf dem Hof und auch in den Ställen lagen tote Pferde und tote Rinder und von meinem Frauchen keine Nachricht und keine Spur.

Drei Wochen wohnte ich noch in der Stadt und bin dann mit einem alten Mann und einer alten Frau wieder auf unseren Hof gezogen, um dort nicht so allein zu sein. Ein Pferd hatte ich ja nun und so habe ich etwas Kartoffeln und auch Gemüse angebaut. Und dann habe ich gewartet, ob nicht doch einmal einer von meinen Lieben kommen würde.

Es wurde Juni und Juli und dann kam am 8. Juli mein liebes Frauchen und brachte gleich ein Töchterchen von vier Tagen mit. Das war nun ein glücklicher und freudiger Tag für uns alle.

Nur zu essen hatten wir fast nichts, keine Milch - und so haben wir uns von Kartoffeln und trockenem Brot ernähren können, und wir wussten, dass wir das nicht lange mehr aushalten konnten. Unser Kindchen nahm nicht zu und wir mussten das Schlimmste befürchten.

In der Stadt hatten sich in den Häusern viele Polen niedergelassen und die Bauern, die noch auf ihren Höfen geblieben waren, vertrieben, und sie durften nur mitnehmen, was sie gerade am Leibe anhatten.

Die Situation wurde immer bedrohlicher. Die Kartoffeln, die ich im Frühjahr angebaut hatte, wurden von den Polen ausgegraben.

Menschen, die am Sonntag in den Gottesdienst gingen, wurden aus der Kirche zum Arbeiten geholt, und wer nicht gut arbeitete, wurde mit der Peitsche geschlagen. Und auch der Kaufmann Schlegel, der 78 Jahr alt war, musste noch zur Arbeit gehen.

Während der Trennung mit Gretel seit dem 21. Februar hat sie auch Schlimmes durchgemacht und nur von Kartoffeln und Brot gelebt. Auch sie wurde in Bartenstein gefangen genommen und ins Zuchthaus gebracht und verhört. Da sie in anderen Umständen war, hat man sie nach drei Tagen wieder freigelassen, was nun wieder ein Glück für sie war. Die anderen Frauen und Mädchen wurden zum größten Teil nach Russland gebracht.

Danach, am 4. Juli wurde unser Töchterchen Margitta in Arnsdorf bei Bartenstein geboren. Zur Entbindung hatte sie keine Hebamme, keinen Arzt, nur eine alte Frau hat ihr helfen können.

Einige Tage danach hörte sie von einer anderen Frau, dass sie den Erich Reimann Ende April nach Bischofsburg habe gehen sehen.

Als unser Töchterchen vier Tage alt war, machte sie sich auf den Weg - sie hatte keine Ruhe mehr - und legte 62 km von Arnsdorf bis nach Bischofsburg zurück.In Begleitung hatte sie noch drei Kinder, welche keine Eltern mehr hatten. Das älteste Mädchen, 15 Jahre alt, konnte Gretel schon viel helfen. Diese drei Mädchen sind in Bischofsburg geblieben.

Am 15. Oktober bekamen wir dann endlich eine Ausreisegenehmigung und machten uns sogleich auf den Weg nach Liebenburg/Harz in die Heimat von meinem Frauchen. Die Sachen, die wir noch mitnehmen wollten und im Kinderwagen versteckten, wurden uns gleich hinter Bischofsburg geplündert und unser Kindchen aus dem Kinderwagen geschleudert.

Das war nun wieder ein großer Jammer, denn wir konnten ja nirgendwo etwas kaufen. Wir kamen dann bis Küstrin an der Oder. Hier war die polnische Grenze und wir mussten noch drei Wochen warten und haben in einem Lager gesessen. Die Fahrt erfolgte nur im Viehwagen bis Berlin und dort wurde das Reisen schon besser. Weiter ging die Fahrt dann über Magdeburg, Halberstadt bis Liebenburg. Der Grenzübertritt in die englische Zone verlief bis auf einige Schwierigkeiten gut.

Restlos erschöpft, aber unendlich glücklich und froh kamen wir in Liebenburg an. Nur unser Kindchen ist nicht gesund. Es hat gerade in beiden Augen auf der Pupille einen weißen Schleier. Wir gingen zu einem Facharzt, der alles untersuchte und sagte, dass Baby müsse erst etwas kräftiger werden. Vorerst könne man nichts machen. Hoffen wir, dass unser Kind nichts an den Augen zurück behält. Zurückzuführen ist dies nun wieder darauf, dass bei der Geburt keine Hebamme zugegen war und die Augen nicht ausgebeizt werden konnten. Dies ist nun wieder unser so großer Schmerz.

Gebt bitte den Brief an die anderen Geschwister weiter, denn das Papier ist knapp und ich kann allen nicht so ausführlich schreiben.

Euer ERICH

Anmerkung

Margitta Klein, erstgeborene Tochter vom jüngsten Sohn des Bauern Franz Reimann hat im September/Oktober 2008, 63 Jahre nach der Flucht, erstmals Bischofsburg besucht. Das nebenstehende Foto vom 03.Oktober zeigt sie am Dimmerfluß in Bischofsburg. Hier in der Nähe müssen sich die Ländereien, die Kiesgrube und der Bauernhof, auf dem Margitta die ersten drei Monate ihres Lebens verbracht hat, befunden haben. Heute existiert der Hof nicht mehr, und auf den Ländereien ist eine Siedlung entstanden.

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