Trauriger Abschied von der unbeschwerten Kindheit
Reinhold Jablonka, Bottrop, erinnert sich an die Tage vor der Vertreibung aus seiner Heimat
Meine Mutter wurde eines Tages im Sommer 1947 in das Kreishaus der polnischen Stadtverwaltung bestellt. Als sie zurückkam, hatte sie ein amtliches Papier in der Hand, das die Ausweisung aus unserer angestammten Heimat, Bischofsburg in Ostpreußen, ankündigte. Der genaue Zeitpunkt würde uns noch mitgeteilt, so stand es in dem Schreiben. Dass wir aus Polen heraus mussten, war aber sicher. Die Stimmung in unserem Familienkreis war mehr als gedrückt, die Erlebnisse und Gefahren auf der Flucht vor der Roten Armee im Winter 1945, die Gefangennahme an der Samland-Küste der Ostsee kehrten unsanft in unsere Erinnerung zurück. Die Rückkehr von dort, ein etwa zwei Monate dauernder Fußmarsch unter unmenschlichen Verhältnissen, hatten unsere kleine Gemeinschaft zusammengeschmiedet: Meine Mutter, ihre Schwester mit sechs Kindern und mich.
Ungewisse Zukunft
Mutter versuchte, es mir zu erklären, aber ich konnte es nicht begreifen. Die liebgewordene, vertraute Umgebung, unser See, an dem wir wohnten, meine Freunde, das alles sollte ich für immer verlassen müssen? Dieser Gedanke machte mich krank. Es dauerte einige Tage, bis ich mich wieder mit den anderen am See traf und die Gewissheit, für immer fort zu müssen, ein wenig verblasste. Mutter hatte sich damit abgefunden, die vertraute Umgebung zu verlassen und in eine ungewisse Zukunft abgeschoben zu werden.
An einem Tag im August war es dann so weit. Mutter und ich sollten uns am nächsten Tag, mit Handgepäck in der Kaserne einfinden.
Die letzten Wochen waren qualvoll, keiner hatte zu irgend etwas Lust. Der Tag der Trennung hing wie ein Damoklesschwert über unserer Gemeinschaft.
Die furchtbaren Erlebnisse und das Leid der letzten zwei Jahre hatten zuvor angefangen, langsam zu verblassen. Die Aufforderung der Polen, die Heimat zu verlassen, ließ nun all das Schreckliche wieder aufleben. Ich wollte und konnte nicht glauben, dass alles noch einmal von vorne beginnen sollte.
Die unumstößliche Gewissheit, dass es morgen endgültig war, hatte uns alle tief getroffen. Mutter suchte unsere Habe zusammen. Die ließ sich in zwei Rucksäcken verstauen. An diesem Abend war noch so viel zu erzählen. Die letzten Jahre zogen noch einmal in Gedanken vorüber, und so manch eine Episode durchlebten wir im Geiste noch einmal.
Am Tag darauf, als es hell wurde, hielt mich nichts mehr im Bett. Ich zog mich an und lief durch den Garten zum See.
Ich ging den schmalen Uferweg entlang und suchte noch einmal die stillen Buchten auf, in denen wir so viele schöne Stunden beim Fischen verbracht hatten. Ich sog noch einmal alles in mich hinein, die Insel, die schilfbewachsenen Buchten, an deren Rand wir unsere Reusen auslegten. Das alles würde ich wahrscheinlich niemals wieder sehen! Ein beklemmendes Gefühl stieg in mir hoch. Ich spielte mit dem Gedanken, mich irgendwo zu verstecken, aber mein Verstand sagte mir, dass ich mich meinem Schcksal ja doch nicht entziehen können würde.
Gegen Mittag war es so weit, unsere Rucksäcke wurden auf den kleinen Handwagen gepackt und wir zogen in Begleitung von Tante Maria und den Kindern zur Kaserne. Zum letzten Mal gingen wir die altvertraute Straße an unserer ehemaligen Wohnung vorbei, die jetzt in Schutt und Asche lag, über die Brücke der Dimmer, die rechts von den Wiesen der Brauerei vorbeifloss. Dann den leichten Anstieg zu den Kasernen hinauf. Als wir in deren Hof einbogen, warfen wir noch einen letzten Blick auf den in der Mittagssonne gleißenden See, die weiten Felder, Wälder und Wiesen. Einige Leute standen schon vor einem großen Gebäude, in das wir hinein mussten. Vor der Türe standen polnische Posten mit umgehängtem Gewehr. Tante Maria und die Kinder mussten vor dem Kasernentor bleiben.Kolonne zum Bahnhof
Eine ganze Prozedur mussten wir über uns ergehen lassen. Wir wurden gründlich untersucht, und man verabreichte uns eine ganze Reihe von Spritzen. Mir war danach richtig schlecht. Zum Schluss wurden wir komplett mit Entlausungsmittel eingepudert. Als wir wieder nach draußen kamen, sahen wir wie Mehlsäcke aus. Auf dem Kasernenhof mussten wir uns zu einer Kolonne zusammenstellen, dann ging es unter Bewachung zum Bahnhof. Meine Tante und die Kinder begleiteten uns.
Auf dem Bahnhof stand schon der Zug für unseren Abtransport bereit. Geschlossene Güterwagen und Viehwagen würden für die nächsten Tage oder Wochen unser Zuhause sein.
Nachdem wir uns von Tante Maria und den Kindern verabschiedet hatten, wurden wir mit vielen anderen in einen der Wagen gesperrt. Es waren einige alte Männer dabei, in der Mehrzahl aber Frauen und Kinder. Noch ein letzter Blick, ein letztes Winken, dann wurde die Wagentüre zugeschlagen und verriegelt. Meine unbeschwerte Kindheit war damit zu Ende.
Es sollte mehr als 45 Jahre dauern, bis ich die Heimat meiner Kinderzeit wiedersah.