Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Neubeginn

Kein Mensch hat bei uns gedacht, daß wir für immer weggehen würden
Von Heinrich Ehlert

Inhalt:
"Ein recht idyllisches Leben"
Flucht aus Bischofsburg
Gut Wildenhoff
Frisches Haff
Auf der Nehrung
Wiedersehen mit dem Vater
Von Danzig nach Rostock
Ankunft im Ammerland
Ein Neuanfang
Lehre und Arbeitslosigkeit
Verlorene Heimat?

"Ein recht idyllisches Leben"

Ich bin am 18. Februar 1933 in Bischofsburg/Ostpreußen geboren. Damals wohnten meine Eltern und meine Großeltern mütterlicherseits in der Kaserne, die von 1919 bis 1934 nicht vom Militär, sondern zivil genutzt wurde. Ab ca. 1935 bis Januar 1945 wohnten wir dann im sogenannten "Reichshaus", einem neu errichteten Doppelhaus in der Allensteiner Straße 5-7 mit insgesamt 12 Wohnungen. Meine Großeltern zogen zeitgleich in die ebenfalls neu erbaute Siedlung am Wasserturm.

Mein Vater stammte aus Rößel, war Maschinenbauer von Beruf und arbeitete bis 1939 als Kraftfahrer bei der Ofenfabrik der Gebrüder Huhn. Er verdiente damals im Jahre 1939 28 Reichsmark wöchentlich. Genau einen Wochenlohn mußte er für die Wohnung bezahlen, die nach meiner Schätzung ca. 65-70 qm groß war und in der wir seit 1941 als Familie mit acht Kindern wohnten. 1939 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, hat in einer Panzerabwehreinheit den Polen- und den Frankreichfeldzug mitgemacht und wurde dann für die Rüstungswirtschaft freigestellt. Ab 1941 war er bei der Schichauwerft in Danzig eingesetzt, wo vorwiegend U-Boote gebaut wurden.

Wir lebten damals nicht nur in räumlich beengten Verhältnissen, auch sonst waren unsere Lebensgrundlagen alles andere als üppig, obwohl in der damaligen Zeit für kinderreiche Familien einiges getan wurde. So brauchten Kinderreiche beispielsweise kein Schulgeld für den Besuch weiterführender Schulen zu bezahlen. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals Spielzeug besessen zu haben. Süßigkeiten und Obst gab es nur selten, Brot war bei uns immer knapp. Das lag nicht in erster Linie am geringen Verdienst meines Vaters, sondern wohl mehr an der Kriegswirtschaft mit ihrer Rationierung von Lebensgütern aller Art. Wer keine besonderen Beziehungen hatte und nur auf Lebensmittelkarten und die seltenen Sonderzuteilungen angewiesen war, konnte eben keine großen Sprünge machen.

Trotz der eher kargen Verhältnisse, in denen ich also aufwuchs, habe ich eigentlich nur angenehme Erinnerungen an meine Kindheit in Bischofsburg. Mit sechs Jahren kam ich in die katholische Jungenschule, 1943 wechselte ich zur Oberschule für Jungen. Es gab bei uns in Bischofsburg eine katholische und eine evangelische Volksschule. Die katholische war zu meiner Zeit in Mädchen- und Jungenschule unterteilt, in der evangelischen Volksschule gab es diese Unterteilung nicht. Auf der Oberschule hat es weder Geschlechter- noch Konfessionstrennung gegeben. Da mir das Lernen keine Probleme bereitete, ging ich gern zur Schule.

Soweit ich nicht in Familienarbeit, zum Beispiel Beaufsichtigung jüngerer Geschwister oder Einkaufsgänge, eingespannt war, verbrachte ich meine Freizeit vorwiegend mit gleichaltrigen Nachbarskindern aus unserem Haus oder der näheren Umgebung. Zu unseren Lieblingsbeschäftigungen gehörte im Sommer der 5 km lange Fußmarsch (natürlich barfuß) zum Daddai-See nach Neudims. Im nahegelegenen Kracks-See badeten wir nicht, weil dort die Abwässer der Bischofsburger Kläranlage eingeleitet wurden. Das Flüßchen Dimmer und der Kracks-See waren aber unsere Schlittschuhparadiese im Winter. In den Sommer- und Herbstferien durfte ich immer einige Tage zu einem Onkel, der in Neudims, in der Nähe des Daddai-Sees, einen relativ großen Bauernhof besaß. An diese unbeschwerten Tage denke ich besonders gern zurück.

Das Freizeitangebot wurde noch besser, nachdem ich bereits mit acht Jahren - Pflichteintritt war zehn Jahre - in das Deutsche Jungvolk eintreten durfte. Dort machte ich nun bei Geländespielen und Zeltlagern mit, war im Fanfarenzug sowie einer Modellfluggruppe und konnte mir am Sonntag in der sogenannten Jugendfilmstunde im Kino kostenlos Filme ansehen. Natürlich waren das fast ausschließlich nationalsozialistische Propagandafilme und selbstverständlich waren auch die anderen Aktivitäten im Jungvolk auf Indoktrination, auf Erziehung zum strammen Nachwuchsnazi ausgerichtet. Das aber weiß ich heute, damals hat das abwechslungsreiche Gemeinschaftserleben mit Gleichaltrigen mir jedenfalls sehr viel Freude gemacht.

Man kann sagen, daß wir trotz aller kriegsbedingten Einschränkungen in Bischofsburg ein recht idyllisches Leben führten. Den Krieg erlebten wir eigentlich nur indirekt durch Berichterstattung in Radio und Tageszeitung. Direkt betroffen war natürlich fast jede Familie durch Einberufung von Familienmitgliedern zum Kriegsdienst und wenn gegebenenfalls die Benachrichtigung über einen "Heldentod" bzw. eine Vermißtenmeldung eintraf.

Flucht aus Bischofsburg

Die Idylle endete abrupt am 20. Januar 1945. Damals haben wir die ersten Bombenangriffe erlebt, und schon am nächsten Tag mußten wir aus Bischofsburg fliehen. Es hat an diesem 20. Januar zwei Bombenangriffe gegeben. Der erste Angriff erfolgte vormittags gegen 11 Uhr, der zweite am Nachmittag um 16 Uhr. Beim Vormittagsangriff stand ich mit einem Spielkameraden vor dem Haus, und wir sahen die Flugzeuge etwa aus Richtung Rochlack ankommen. Wir beobachteten sie, hielten sie für deutsche und bemerkten plötzlich, daß sich von den Flugzeugen etwas löste, ohne zu wissen, worum es ging. Und dann knallte es. Die ersten Einschläge waren so etwa hinter der Dimmer. Da war irgendeine Lagerhalle, und sie brannte lichterloh nach diesem Bombenangriff. Ansonsten aber hat der erste Angriff wohl gar nicht so sehr viel Schaden angerichtet. Beim Nachmittagsangriff wurde die Innenstadt in Mitleidenschaft gezogen. Es gab eine ganze Anzahl Tote, inzwischen weiß ich aus dem Tagebuch meines Vetters, daß es 34 waren. An diesem Wochenende war auch mein Vater zu Hause; er war auf Urlaub von Danzig gekommen und sollte eigentlich erst am Montag wieder zurückfahren. Aber weil ihm die Sache zu mulmig vorkam, hat er sich früher auf den Weg gemacht. Er ist mit der Eisenbahn aber nicht weit gekommen, wie wir hinterher festgestellt haben, sondern ist dann auch - wie wir später - über das Eis des Frischen Haffs und dann weiter über die Nehrung in Richtung Danzig marschiert.

Meine Mutter ist aus Angst vor weiteren Bombenangriffen noch am späten Nachmittag mit meinen Geschwistern zu unseren Verwandten nach Neudims gegangen. Nur ich bin dageblieben, wahrscheinlich weil ich irgendwelchen Dienst beim Jungvolk hatte. Ich kann mich noch daran erinnern, daß in der Nacht ein Lkw vor unserem Hause hielt, mit Flüchtlingen und Soldaten beladen. Das Fahrzeug hatte irgendeine Panne, es konnte jedenfalls nicht weiter. Die Leute - es war sehr kalt in jener Nacht - suchten Unterkunftsmöglichkeiten, und ich habe sie zu uns in die Wohnung genommen. Sie haben sich in unserer Wohnung häuslich niedergelassen, und dementsprechend sahen die Zimmer aus. Jedenfalls war meine Mutter ganz schön erbost, als sie am anderen Tag, aus Neudims kommend, die Bescherung sah. Natürlich wurde ich kräftig ausgeschimpft; doch wäre mir das sicher erspart geblieben, wenn meine Mutter auch nur geahnt hätte, daß sie ihre Wohnung nie mehr wiedersehen sollte. Denn noch am gleichen Tag, es war der 21. Januar, wurde sehr früh verordnet bzw. durch jemand bekanntgegeben, daß wir uns alle um 11 oder 12 Uhr bei Krosta an der Tankstelle mit Handgepäck einzufinden hätten. Von dort aus sollten wir dann mit LKWs zum Bahnhof transportiert werden. Da meine Mutter nicht da war mit den Kindern, bin ich natürlich nach Neudims marschiert, um sie abzuholen, habe sie aber aus irgendeinem Grunde verpaßt. Sie waren schon unterwegs, müssen einen anderen Weg gegangen sein, oder ich habe eine Abkürzung genommen, denn als ich nach Bischofsburg zurückkam, standen sie schon alle bei Krosta.

Kein Mensch hat damals an einen Auszug ohne Wiederkehr gedacht, sondern wir haben an eine vorübergehende Evakuierung geglaubt. Allerlei Gerüchte machten die Runde. Eines dieser Gerüchte war, wir kommen nach Bayern. Da fiel mir nur noch ein: "Mensch, Bayern, Schnee, Skilaufen". Ich hatte kurz vorher von meinem älteren Bruder - er war auf der Adolf-Hitler-Schule in Krössensee/Pommern - ein Paar Skier bekommen. So etwas gab es für mich und meine Spielkameraden vorher überhaupt nicht, wir kannten nur selbstgebastelte Skier aus Tonnenbrettern (Dauben). Und er hatte von der Adolf-Hitler-Schule irgendein Paar alte Skier mitgebracht, die mein ganzer Stolz waren. Da ich die langen Dinger ja kaum mitschleppen konnte, bin ich noch einmal nach Hause gelaufen und habe mir wenigstens die Bindungen abmontiert, weil ich mir sagte, "die brauchst du in Bayern". Wie lange ich sie mitgeschleppt habe, weiß ich nicht, irgendwann mußte ich sie dann doch wegschmeißen.

Wir sind dann tatsächlich mit LKWs - wenn ich nicht irre, irgendwelchen Wehrmachts-LKWs - zum Bahnhof gebracht worden. Auf dem Bahnhof stand ein Güterzug mit geschlossenen Waggons - nichts drin, keine Bänke, gar nichts, Viehwagen. Und da waren schon Flüchtlinge drin, unter anderem, habe ich herausgefunden oder herausgehört, aus Gumbinnen. Zumindest einige davon waren schon aus Gumbinnen geflüchtet. Sie müssen also schon vom Datum her, wie ich erst nachher festgestellt habe, eine ganze Zeitlang unterwegs gewesen sein. Und woran ich mich noch erinnere ist, daß es sehr eng in dem Waggon war, daß irgendeine Verrückte da war und daß dauernd gebetet wurde. Ich weiß nicht, wie lange wir gefahren sind. Mindestens eine Nacht waren wir im Zug, aber es kann auch sein, daß es mehrere waren. Es ging immer nur ein Stück voran, dann mußten wir wieder warten, denn überall, wo Militär- oder Verwundetentransporte erwartet wurden oder vorbeikamen, wurden wir aufs Abstellgleis gestellt. Wir haben manchmal stundenlang auf freier Strecke gestanden, ohne daß die Türen geöffnet wurden. Allenfalls konnte man aus dem Türschlitz nach draußen schauen. Und keiner wußte, wo wir jeweils waren und wohin die Reise ging.

Gut Wildenhoff

Ausgeladen wurden wir dann in Gut Wildenhoff in der Nähe von Heilsberg und auf einem angeblich von einer Gräfin bewohnten Gutshof untergebracht. Die erste Nacht haben wir mit anderen im Schlafzimmer, das völlig ausgeräumt war - und es war ein Riesenschlafzimmer - auf dem Fußboden geschlafen. Später wurden wir allerdings in ein Gefangenenlager umquartiert, in dem früher kriegsgefangene Russen untergebracht waren. In Wildenhoff habe ich zum ersten Mal Dinge bekommen und gegessen, die ich vorher noch nie gesehen hatte. In diesem Gut waren nämlich auch Soldaten unserer Bischofsburger Garnison untergebracht. Es gab in dieser Garnison einen Bäckerzug und einen Fleischerzug, die für die Versorgung der Garnison zuständig waren. Und die hatten offenbar den Auftrag, die Lebensmittellager in Allenstein zu sprengen. Vor der Sprengung haben sie natürlich mitgenommen, was sie mitnehmen konnten. Gefrorene Gänse, Enten, Brot und sonstige Lebensmittel hatten sie und versorgten uns damit. Und - daran erinnere ich mich ganz intensiv - ich konnte mich reichlich mit Zigaretten eindecken. Nicht, daß ich damals schon rauchte, aber die waren sehr leicht zu transportieren und später auf der Nehrung habe ich manchem verwundeten Soldaten eine Freude gemacht, wenn ich ihm eine Packung Zigaretten schenkte. Ich habe eine ganze Menge davon im Rucksack mitgeschleppt, natürlich auch Lebensmittel, beispielsweise Manöverbrötchen, Knäckebrot, alles was leicht war und uns dann über die Runden geholfen hat. Und was ich auch zum ersten Mal bekommen habe, war Schokakola - offenbar Frontverpflegung für die Soldaten -, runde Packungen Schokolade. Auf jeden Fall erhielten wir Dinge - auch Obst und Südfrüchte, glaube ich -, die ich vorher nie gesehen oder allenfalls zu Weihnachten bekommen hatte.

Ich weiß nicht, wie lange wir in Gut Wildenhoff waren, weiß auch nicht, wie wir weitergekommen sind, mit dem Zug mit Sicherheit nicht. Vermutlich sind wir mit LKWs der Wehrmacht weitertransportiert worden, denn ich kann mich nicht daran erinnern, daß wir zu Fuß gegangen sind. Vielleicht sind wir sogar von den Einheiten der Garnison Bischofsburg mitgenommen worden.

Unsere nächste Station war Heiligenbeil. Dort hatte meine Mutter eine Schulfreundin, deren Adresse sie zum Glück kannte. Wir wurden tatsächlich freundlich aufgenommen, konnten dort in der Wohnung zum ersten Mal wieder nach langer Zeit richtig baden und die Wäsche waschen. Mir ist nicht mehr erinnerlich, wie lange wir uns dort aufgehalten haben, es waren aber auf jeden Fall mehrere Tage. In Heiligenbeil habe ich übrigens zum ersten und einzigen Mal den Gauleiter Erich Koch gesehen. Wir begegneten ihm irgendwo auf der Straße. Meine zweitjüngste Schwester ist zu ihm gelaufen, hat ihn angesprochen, und er hat ihr die Hand gegeben.

Irgendwann, es muß so Anfang Februar gewesen sein, mußten oder wollten wir weiter, Richtung Haff.

Frisches Haff

Das Haff war zu diesem Zeitpunkt zugefroren, die Uferränder allerdings waren schon eingebrochen. Man konnte auf diese riesige Eisscholle, die das Haff eigentlich nur noch bildete, nur über Notbrücken gelangen, die von Pionieren errichtet worden waren, und auf dem Eis mußte man sich genau an mit Tannenbäumen, Stangen und sonstigem Material abgesteckte Wege halten. Der Übergang erfolgte meines Wissens nur nachts. An den Übergängen standen die "Wehrmachtskettenhunde" (Militärpolizei der Wehrmacht) und Parteileute in Uniformen und hielten alle Männer im wehrfähigen Alter auf, um sie dem Volkssturm zuzuführen. Als wehrfähig galt man, glaube ich, mit 14 Jahren, nach oben gab es keine Altersbegrenzung. Und ich habe mich immer vorgedrängt, mich diesen Leuten gezeigt, weil ich immer hoffte, die würden mich auch aufhalten. Ich war ja Hitlerjunge, und wir waren darauf getrimmt, unser Vaterland verteidigen zu müssen! Ich hatte mich doch vorher, in Bischofsburg noch, darauf gefreut, Panzergräben zu bauen. Wir waren schon alle abkommandiert zum Schippen und Schanzen. Ich sollte in die Nähe von Memel - mein Termin stand schon fest, Anfang Februar hätte ich für 14 Tage dorthin gemußt. Nun, zu meinem Bedauern - ja, so blöd war man damals! - haben sie mich nicht abgefangen.

Das Schlimme beim Übergang auf das Haff war, daß die Bauern, die da mit ihren Trecks genauso im Flüchtlingsstrom waren wie wir zu Fuß oder mit den Autos der Wehrmacht, jetzt nur das Notwendigste auf dem Wagen behalten durften. Alles andere, was sie an Gepäck bis dahin noch mitgeführt hatten, mußten sie abladen, um Frauen und Kinder zu transportieren. Wir Fußgänger hatten keine Gepäckprobleme - wir hatten sowieso nichts mehr! Das bißchen, was wir noch mitschleppten, das trugen meine ältere Schwester und ich, wohl ausschließlich Wäsche und Verpflegung. Außerdem nehme ich an, daß meine Mutter ein Paar Papiere, Geld und Lebensmittelkarten mit hatte, das war ja in damaliger Zeit sehr wichtig. Und sonst hat sie sich um meine kleineren Geschwister kümmern müssen. Unsere Jüngste war 1941 geboren, sie war zu dem Zeitpunkt also vier Jahre alt und mußte fast ununterbrochen auf dem Arm getragen werden. Die kleineren Kinder durften beim Übergang auf einen Wagen. Der Bauer, dem wir zugeteilt wurden, hat natürlich sehr geschimpft, weil er fast alles runterschmeißen mußte. Wir älteren Kinder - meine ältere Schwester und ich - mußten nebenher gehen. Das war ganz schön beschwerlich, denn auf dieser Eisscholle hatte sich schon längst eine Wasserschicht gebildet, die bis zu den Knöcheln reichte und uns nasse Füße bescherte. Dabei war es auch noch sehr kalt, Minustemperaturen von schätzungsweise 25 Grad, zumindest in der Nacht. Tagsüber, wenn die Sonne schien, war es etwas wärmer, aber nachts war es bitterkalt. Die Überquerung des Haffs dauerte etwa bis zum Morgengrauen. Um diese Jahreszeit kann es also frühestens so sechs, halb sieben gewesen sein. Ich weiß leider nicht, wann wir das Festland verlassen haben, aber ich schätze, es muß gegen 22-23 Uhr gewesen sein. Jedenfalls erreichten wir erst im Morgengrauen die Nehrungsküste. Allerdings dauerte es dann noch ziemlich lange, bis wir wieder festen Grund unter den Füßen hatten. Das war auch nicht so einfach, denn an dieser Stelle war die Nehrung ziemlich steil. Auch hier führte eine Notbrücke von der Scholle auf die Nehrung, danach ging es noch ziemlich steil hinauf bis zu dem Verkehrsweg. Und plötzlich kamen Tiefflieger und fingen an, auf die Trecks zu schießen. Die Bauern gerieten zum Teil in Panik und versuchten, auch außerhalb der abgesteckten Wege hinaufzukommen. Nachts war zwar das Wasser an den Uferrändern gefroren, aber es war nicht stark genug, um die Wagen zu tragen - einige sind eingebrochen, Pferde und Menschen ertranken.

Auf der Nehrung

Als wir endlich die Nehrungsstraße erreicht hatten, warf der Bauer die ihm aufgezwungenen Fahrgäste wieder vom Wagen. Warum? Ich weiß es nicht, der kutschierte jetzt eigentlich ein leeres Fuhrwerk. Aber wahrscheinlich war seine Wut noch zu groß, unseretwegen einen Großteil seines Gepäcks verloren zu haben. Auf jeden Fall sind wir dann die Nehrung lang zu Fuß gegangen, vorwiegend abseits der Straße. So war es für uns eigentlich auch bequemer, denn die einzige Straße, die es dort gab, war ja so verstopft durch Wehrmachtsfahrzeuge und Flüchtlingstrecks, daß wir viel besser in den Wäldern neben der Straße durchkamen. Und die Wälder waren übersät mit Klamotten, mit allem Möglichen: Betten, Decken, Kleidung und Koffern von den Leuten, die das da hatten liegenlassen oder wegwerfen müssen. Wir sind erst in Richtung Danzig gegangen, dann wurden wir aber irgendwann gestoppt. Es hielten leere LKWs der Wehrmacht, luden Frauen und Kinder auf und fuhren in die Gegenrichtung, nach Pillau/Neutief. Natürlich ist das alles nicht an einem Tag passiert. Eine Nacht hat meine Mutter mit den kleineren Geschwistern in einer Strandhalle Unterschlupf gefunden. Sie hat sich dort einen Platz erkämpft, und wir haben ihr die Kinder durchs Fenster reinreichen können, so daß sie zwar nur sitzend oder hockend, aber wenigstens einigermaßen geschützt die Nacht mit den kleinsten unserer Geschwister verbringen konnte. Meine ältere Schwester und ich haben draußen übernachtet, was aber trotz der Eiseskälte kein so großes Problem war, denn wir haben später auch mit der ganzen Familie noch mindestens eine Nacht im Wald verbracht. Wir haben uns Federbetten, Decken und sonstige geeignete Dinge, die da herumlagen, zusammengesucht, eine Art Zelt gebaut und uns alle in Federbetten eingemummt. Ich kann mich nicht erinnern, das als besonders beschwerlich empfunden zu haben, jedenfalls haben wir es alle heil überstanden.

In Neutief angekommen, mußten wir feststellen, daß die Ortschaft schon ziemlich zerstört war. Die einheimische Bevölkerung war nicht mehr da, alle Häuser waren verlassen. Es gab auch keine Geschäfte mehr, man konnte also auch nichts kaufen. Ich gehe davon aus, daß die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) uns Flüchtlinge irgendwie versorgte. Untergebracht waren wir im Keller einer Stadtsparkasse. Es war offenbar ein Luftschutzkeller, denn es gab dort einen Notausgang mit einer dicken Stahltür mit zwei Riegeln, einem unten und einem oben, die man nur mit zwei Händen öffnen konnte. Ich kann mich so genau daran erinnern, weil ich im Zusammenhang mit dieser Tür bald Probleme mit einem Volkssturmangehörigen bekam, der da mit einem Karabiner alles bewachte. Bei meinen Streifzügen durch Neutief hatte ich zwei Jungen - etwa in meinem Alter - kennengelernt. Bauernjungs, die bis Pillau/Neutief mit einem Pferdewagen gekommen waren. Und alle, die es bis dorthin mit Pferd und Wagen geschafft hatten, mußten jetzt ihre Wagen auf einem Riesenplatz in der Nähe des Hafens abstellen. Da stand eine Unmenge an Leiterwagen, Pferdewagen aller Art, zum Teil noch mit Gepäck beladen, zum Teil leer. Was man mit den Pferden eigentlich gemacht hat, weiß ich nicht, denn die waren alle weg. Diese Jungs hatten auf ihrem Wagen noch einiges an Lebensmitteln mitgeführt, u.a. Mehl und Schmer (nicht ausgelassenes Schweinefett). Ich bin also nicht bei meiner Mutter und den Geschwistern im Luftschutzkeller geblieben, sondern habe mit den beiden Bauernjungen in einer leerstehenden Wohnung in der Nähe Quartier genommen, vielleicht 100 Meter weiter entfernt. Das war eine sehr schöne Wohnung im Parterre, die Fensterscheiben waren zwar kaputt, aber sonst war alles noch drin: ein Schlafzimmer mit zwei Ehebetten, der Herd in der Küche funktionierte - wir konnten ihn anheizen, Holz, Töpfe, Geschirr, alles war da. Meine neuen Freunde haben Schmer ausgelassen und Schmalzkuchen gebacken - bei uns gab es die immer zu Silvester. Zuvor hatten wir uns aus einem Keller in der Stadtsparkasse Blaubeeren besorgt. In der Stadtsparkasse ging man von der Geschäftsebene eine Treppe - ziemlich viele Stufen - nach unten zum Keller. Auf dem oberen Treppenabsatz stand immer jemand vom Volkssturm mit einem Karabiner und überwachte den Kellerbereich. Obwohl die Häuser alle verlassen waren, durfte man natürlich nichts aus diesen Häusern nehmen. Überall hingen die Plakate: "Wer plündert, wird erschossen!"

Nun gab es neben dem Luftschutzraum, wo wir untergebracht waren, in einem von dem Volkssturmmann nicht einzusehenden Seitenflügel einige Kellerräume mit Vorräten. Diese Keller waren nur mit Dachlattenverschlägen abgeteilt und mit Türen, auch aus diesen Latten, gesichert. Man konnte zwischen den Dachlatten hindurchschauen und feststellen, was da drin war. Und wir entdeckten dort unter anderem in Flaschen eingemachte Blaubeeren. Und da die beiden Jungs, die ich kennengelernt hatte, auf die Idee kamen, zum Schmalzkuchen würde sich eine Blaubeersuppe gut machen, haben wir uns diese Blaubeeren geholt. Einer hat an der Ecke Schmiere gestanden, mit dem anderen habe ich die Krampen, durch die das Schloß gehalten wurde, entfernt, und schon waren wir drin. Ich hatte eine kurze grüne Joppe an mit einer Innentasche links, in die ich eine Flasche steckte. Eine zweite versteckte ich rechts unter der Joppe und preßte sie mit dem Arm fest. So sind wir dann langsam in Richtung Ausgang geschlendert (diesem Ausgang mit der Stahltür), um nach draußen zu gelangen. Ich wollte die Riegel mit einer Hand öffnen, weil ich ja mit meinem rechten Arm die Flasche hielt, doch das war zu schwer, und in dem Moment dachte ich nicht daran, daß ich den rechten Arm für andere Zwecke benötigte. Also versuchte ich, den Riegel mit beiden Händen aufzumachen. Natürlich rutschte die Flasche nun unter meiner Joppe weg, zerbarst mit lautem Knall und färbte Fußboden und Tür blau. Uns fuhr natürlich ein gewaltiger Schreck in die Glieder, zumal der Wachmann sofort losbrüllte: "Halt! Stehenbleiben!". Wir haben noch rechtzeitig die Tür aufgekriegt und sind gelaufen und gelaufen! Nicht in die nahegelegene Wohnung, sondern erst einmal weit weg - wir hatten Angst. Aber er hat uns nicht erwischt. Wir sind dann zurückgegangen, haben uns die Blaubeersuppe gemacht und Schmalzkuchen und nach langer Zeit wieder mal richtig zugelangt. Es war aber wohl doch etwas zu üppig oder eine Zusammenstellung, die dem Magen nicht gut tat, denn er rebellierte nach relativ kurzer Zeit, und wir mußten alles auf wenig angenehme Weise wieder hergeben. In dieser Wohnung haben wir gehaust, solange wie wir in Pillau waren.

Wiedersehen mit dem Vater

Irgendwann bekamen wir den Befehl zum Aufbruch, oder wir haben uns auf gut Glück in Richtung Hafen aufgemacht und sind auch irgendwie auf ein Schiff gekommen. Es war am 18. Februar 1945. Diesmal weiß ich das Datum so genau, weil ich an dem Tage zwölf Jahre alt wurde. Höchstwahrscheinlich sind wir aber erst am nächsten Tage weggekommen. Lange sind wir jedenfalls nicht mehr in Pillau geblieben. Doch während wir dort im Hafen standen, haben wir noch einen Tieffliegerangriff erlebt. Die Flak aber, die es auf dem Schiff gab (es war ein Frachtschiff, aber es war mit einer Vierlingsflak bestückt), hat die drei angreifenden Tiefflieger erfolgreich abgewehrt. Sie haben zwar keinen abgeschossen, auch keinen getroffen, aber jedenfalls sind die Tiefflieger nicht so dicht herangekommen, daß sie uns gefährlich werden konnten. Bei dem Fliegerangriff wurden zwar alle Zivilisten von Matrosen unter Deck gescheucht, ich versteckte mich aber unter einer Plane in der Nähe des Flakgeschützes, konnte also das ganze Geschehen genau beobachten.

Wir sind also mit ziemlicher Sicherheit am 19. Februar ausgelaufen und wurden nach Gotenhafen gebracht. Wie lange diese Fahrt dauerte, habe ich nicht in Erinnerung. Von Gotenhafen ging es nach Oxhöft in ein riesiges Auffanglager für die Flüchtlinge, die aus Ostpreußen per Schiff herausgeholt wurden. Nun wußten wir ja, daß unser Vater in der Schichauwerft in Danzig arbeitete. Und da zu diesem Zeitpunkt das Leben dort noch relativ normal ablief, ohne besonders spürbare Kriegshandlungen, selbst Eisenbahn und Straßenbahnen verkehrten fahrplanmäßig, fuhren meine Mutter und ich nach Danzig, haben uns durchgefragt, die Werft und meinen Vater gefunden, und der hat die Genehmigung erhalten, uns zu sich holen zu dürfen. Mein Vater war mit seinen Arbeitskollegen zwar auch in Baracken untergebracht, aber diese Unterkunft war ungleich komfortabler als die Notunterkünfte im Auffanglager Oxhöft. Jedenfalls waren wir überglücklich, dort in ein oder zwei Zimmern - das weiß ich nicht mehr - unterzukommen. Dann sind wir wieder zurück in das Flüchtlingslager gefahren und haben die anderen Geschwister abgeholt. Während unseres Aufenthaltes in Danzig schloß sich uns eine Cousine von mir an. Sie war auch aus Bischofsburg geflüchtet und war jetzt alleine (ihre Angehörigen waren entweder auf anderen Wegen geflüchtet oder zu Hause geblieben). Als BDM-Führerin wollte sie natürlich unter keinen Umständen in russische Gefangenschaft geraten, sondern unbedingt raus aus dem Gefahrenbereich. Sie ist auf irgendwelchen Wegen nach Danzig gekommen, erinnerte sich auch an meinen Vater und hat ihn aufgesucht, so daß wir uns dort trafen. Von diesem Zeitpunkt an gehörte sie mit zur Familie, hat mit uns in der Schichauwerft gewohnt und uns auch auf der weiteren Flucht in den Westen begleitet.

Von Danzig nach Rostock

Etwa Mitte März kamen wir auf ein Schiff, das vorwiegend für Arbeiter der Schichauwerft, die in Danzig nicht mehr benötigt wurden, und deren Angehörige reserviert war. Wegen des drohenden Einmarsches der Russen - inzwischen konnte das ja keiner mehr vertuschen - wurden keine neuen Boote aufgelegt, sondern nur die im Bau befindlichen zu Ende gebaut. Nur Arbeiter, die dafür benötigt wurden - unter ihnen befand sich auch mein Vater - mußten noch in Danzig bleiben, alle anderen wurden mit diesem Schiff evakuiert.

Unser Vater blieb also in Danzig, während wir auf diesem Schiff über die Ostsee Richtung Westen fuhren. Wir sollten in Swinemünde an Land gesetzt werden, aber die Bucht von Swinemünde bzw. die Hafeneinfahrt war vermint, so daß wir ungefähr drei Tage und drei Nächte vor Anker gelegen haben draußen vor der Einmündung nach Swinemünde. Offensichtlich warteten wir auf Minenräumer. Aber da die nicht kamen, wurde unser Dampfer umgeleitet; wir nahmen wieder Fahrt auf in Richtung Rostock. Auf dem Schiff hatten wir keinerlei Versorgung, aber irgendwie sind wir über die Runden gekommen. Ein bißchen hatten wir sicherlich mit, aber die drei Tage, die wir dort vor Swinemünde lagen, waren natürlich nicht eingeplant. Ich weiß nur, daß auf dem Deck dieses Dampfers ein großer Haufen Steckrüben lag, mit einer Plane abgedeckt und von Matrosen bewacht. Aber wenn ich als Junge dann doch mal die eine oder andere Rübe stibitzt habe, drückten die Matrosen immer beide Augen zu. Und möglicherweise haben die Kollegen meines Vaters etwas Verpflegung dabei gehabt und uns mitversorgt. In Rostock sind wir an Land gekommen und beinahe sofort in einen Zug gesetzt worden, diesmal waren es aber Personenwagen. Vor der Abfahrt sind meine Mutter und meine Cousine (die war älter als wir, so sechzehn oder siebzehn) noch zu einem Amt gegangen, haben dort Lebensmittelkarten besorgt und erst einmal richtig eingekauft. Denn auch in Rostock waren die Verhältnisse noch völlig normal.

Ankunft im Ammerland

Der Zug brachte uns nach Westerstede, der Kreisstadt des Ammerlandes im Land Oldenburg/Niedersachsen. Man hatte uns dort in einer Schule erwartet, und wir wurden zunächst sehr freundlich aufgenommen. Man hat uns mit ganzen Wäschekörben voll belegter Brote und Brötchen sowie mit Getränken bewirtet. Danach wurden wir alle in der damaligen Gasanstalt entlaust. Wir hatten ja inzwischen durch die Verhältnisse auf der langen Flucht alle Kleiderläuse, Kopfläuse und einige, darunter ich, auch noch Krätze. Dann kamen wir wieder in die Schule, wo uns nun Unterkünfte zugeteilt wurden. Natürlich war es bei der damals herrschenden Wohnungsnot unmöglich, für eine neunköpfige Familie eine gemeinsame Unterkunft oder gar Wohnung zu besorgen. Deshalb mußten wir auseinandergerissen und auf verschiedene Wohnungen verteilt werden. Verständlicherweise waren die Wohnungsinhaber über die zwangsweise Einquartierung von Flüchtlingen wenig erfreut, und sie haben ihren Unmut häufig überdeutlich an den ungebetenen Gästen ausgelassen.

Wir blieben nicht in Westerstede, sondern kamen in das angrenzende Dorf Burgforde, ein ziemlich langes Straßendorf mit vorwiegend verstreut liegenden Bauerngehöften. Zwei meiner Schwestern waren den Bewohnern eines kleinen Einfamilienhauses zugeteilt worden, eine andere Schwester einem Sägewerksbesitzer, und mein jüngerer Bruder lebte fortan auf einem größeren Bauernhof. Die übrigen Familienmitglieder waren in einem Bahnwärterhäuschen untergebracht. Der Bahnwärter war nicht da - ich glaube, er war als Soldat an der Front oder sogar gefallen. Kinder hatten sie nicht, es wohnte also nur die Hausfrau in einer relativ großen Wohnung. Ich kann nicht sagen, daß die Bahnwärtersfrau ausgesprochen freundlich zu uns war, aber auch nicht übermäßig unfreundlich. Insgesamt wurden die Flüchtlinge jedoch grundsätzlich als unerwünschte Eindringlinge angesehen und dementsprechend behandelt. Der Unmut der Einheimischen war ja eigentlich auch verständlich, denn die Einheimischen hatten weitgehend selbst unter den Kriegsfolgen zu leiden, und nun wurden ihnen noch zwangsweise Flüchtlinge in die Wohnung gesetzt. Man kann es verstehen, daß sie nicht gerade begeistert waren. Wir als Kinder haben das aber eigentlich nicht so sehr empfunden. Wir wurden in der Schule schon mal gehänselt oder auch mal beleidigt, es hat auch die eine oder andere kleine Schlägerei deshalb gegeben. Im Grunde haben wir uns dort aber - das kann ich jedenfalls von mir sagen - relativ schnell eingelebt und auch bald Freunde gefunden.

An das Kriegsende kann ich mich eigentlich nicht genau erinnern. Ich weiß nur, daß ich für Frau S. (die Bahnwärtersfrau), als die Amerikaner näherrückten, einiges an Nazizeug im Garten vergraben mußte. Ihr Mann war - wie fast jeder Deutsche - in irgendeiner nationalsozialistischen Organisation. Ich vermute, er war sogar ein größerer Funktionär, denn es gab da einiges an Hitlerbildern und ähnlichen Dingen, die die anrückenden Besatzer nicht finden sollten.

Ich erinnere mich auch noch an etwas anderes. Das Bahnwärterhäuschen, in dem wir wohnten, war nur ungefähr 50 bis 100 Meter vom Bahnhof Linswege entfernt. Auf dem Güterbahnhof hatten die Amerikaner nach ihrem Einmarsch etwa 10 bis 15 Panzer abgestellt. Ich bin eines Tages an diesen Panzern vorbeigegangen und hatte eine Uniformhose der Hitlerjugend mit zugehörigem Koppelschloß an. Und als ich so über den Bahnhof ging, kam ein farbiger Soldat auf mich zu, hielt mich an, kniete vor mir nieder und betrachtete mein Koppelschloß. Nun waren auf diesem Koppelschloß die Worte "Blut und Ehre" und ein Hakenkreuz eingestanzt. Ich fürchtete, es würde mir irgendetwas geschehen, aber er versuchte lediglich, die Schrift zu entziffern, lachte nur und gab mir, glaube ich, sogar noch Schokolade.

Ein Neuanfang

Bald nach Kriegsende normalisierte sich das Leben, soweit man unter den damaligen Bedingungen von Normalisierung sprechen kann. Es drehte sich damals ja alles darum, irgendwie über die Runden zu kommen. Und schließlich hat das ja auch geklappt. Meine Mutter hat auf einem benachbarten Bauernhof ausgeholfen, vorwiegend für Lebensmittel genäht und gestopft. Und über kurz oder lang bin ich auch da hingeraten und habe dann eigentlich meine ganze Freizeit dort verbracht. Schon vor der Schule - ich besuchte zunächst die zweiklassige Volksschule im angrenzenden Dorf Linswege - habe ich dort für ein gutes Frühstück Kühe gemolken. Und auch nach der Schule bin ich sofort wieder auf den Hof gegangen, um in Küche oder Stall, bei der Feldarbeit oder in der Baumschule zu helfen. Alles in allem habe ich mich auf dem Bauernhof recht wohl gefühlt, die Verpflegung war gut und die Arbeit machte meistens auch Spaß. Daneben - und das machte nun absolut keinen Spaß - mußte ich aber noch mit den anderen Geschwistern im Herbst auf den abgeernteten Getreidefeldern Ähren auflesen und die Kartoffeläcker nach Kartoffeln absuchen. Die aufgelesenen Ähren wurden dann in der Linsweger Mühle gegen Haferflocken eingetauscht. So mußte eben jeder von uns zum Lebensunterhalt beitragen. Eine meiner jüngeren Schwestern ist beispielsweise auch von Hof zu Hof gegangen und hat um Milch gebettelt. Meistens kam sie auch mit einem Liter Milch und/oder ein paar Eiern, manchmal sogar mit einem Stück Speck nach Hause. Mich hätte meine Mutter nicht zum Betteln überreden können, eher wäre ich verhungert.

Etwa Mitte August 1945 erfuhren wir - von meinem Vater und von meinem ältesten Bruder wußten wir zu dem Zeitpunkt noch nichts -, daß die Schichau-Werft in Bremerhaven wieder die Arbeit aufgenommen hatte. Wir haben uns Fahrräder geliehen - meine Schwester, meine Cousine und ich -, sind nach Bremerhaven gefahren (ungefähr 70 km) und haben unseren Vater tatsächlich dort gefunden. Er arbeitete auf der Schichau-Werft und bewohnte ein kleines Zimmerchen in Bremerhaven-Lehe. Wir erfuhren nun, daß er mit anderen Arbeitskollegen in letzter Minute auf einem noch nicht tauchfähigen U-Boot aus Danzig entkommen war. Ich glaube, mich daran zu erinnern, daß mein Vater erzählte, er sei mit einigen Kollegen auf Deck transportiert worden, wobei sie aus Sicherheitsgründen an den Aufbauten festgebunden waren. Ich weiß nicht, wie weit sie mit diesem U-Boot fuhren, vermutlich nur bis zum nächsten noch freien Hafen. Jedenfalls sind sie irgendwann und irgendwie in Bremerhaven angekommen und haben dort direkt nach Kriegsschluß wieder zu arbeiten begonnen. Natürlich haben sie nun keine U-Boote mehr gebaut, sondern Reparaturarbeiten an alten Kuttern und Dampfern durchgeführt.

Schon etwa Ende 1945 wurde uns eine eigene Wohnung in Westerstede zugewiesen. Sie war zwar klein, aber wir waren von Hause aus ja daran gewöhnt und nur froh, daß wir wieder alle zusammenziehen konnten. Bis auf meinen jüngeren Bruder, der zunächst bei dem Bauern blieb, bei dem er nach der Flucht untergekommen war und fast wie ein eigener Sohn behandelt wurde. Er zog erst zu uns - ich schätze 1949/50 -, als er nach Schulabschluß eine Lehre als Kunstschmied in Westerstede antrat. Inzwischen hatte uns auch mein ältester Bruder wiedergefunden. Er war aus Pommern (wo er auf der Adolf-Hitler-Schule in der Ordensburg Krössensee gewesen war) mit dem Fahrrad geflüchtet, dann in Holstein bei einem Bauern untergekommen, hatte dort gearbeitet und uns über den Suchdienst des Roten Kreuzes gefunden. Und nicht nur er, sondern auch ein Vetter von mir - der Bruder der Cousine, die schon bei uns war - und die älteste Schwester meines Vaters, Tante Liesbeth, haben uns auf diesem Wege gefunden und zogen zu uns. Kurz darauf hielt es meine Cousine nicht mehr in Westerstede. Sie wollte unbedingt nach Berlin (dort hatte sie Bekannte oder Verwandte), ist dann auch bald abgereist und lebt heute noch in der ehemaligen DDR.

Mein Vater arbeitete weiterhin in Bremerhaven und kam nur am Wochenende nach Hause. Unsere neue Wohnung, in der nun dauernd neun, später zehn Personen lebten, hatte drei Zimmer und eine Wohnküche. Wir hatten noch einen kleinen Stall dabei mit angrenzendem "Plumsklosett". Außerdem gehörten ein relativ großer Garten und ein Geräteschuppen zur Wohnung. Meine Tante hat nun jedes Jahr ein Schwein gemästet, und der Garten wurde mit Gemüse und Kartoffeln bestellt. Hinzu kam einiges, was meine Mutter weiterhin durch Näharbeiten heranschaffte, und schließlich gab es ja auch noch die Lebensmittelkarten. Mein Vater und mein Vetter, der Arbeit in einem Westersteder Sägewerk gefunden hatte, verdienten das zum Lebensunterhalt erforderliche Geld. Alles in allem sind wir also ganz gut über die Zeit gekommen. Statt der Dorfschule besuchte ich jetzt die achtklassige Volksschule in Westerstede, nicht mehr die Oberschule (Gymnasium) wie in Bischofsburg, denn das kostete jetzt Schulgeld. Vorher brauchten wir ja als Kinderreiche kein Schulgeld zu zahlen. Da mein Vater in der Nachkriegszeit aber höchstens das Schulgeld für einen aufbringen konnte, hatte er zunächst entschieden, daß ich es sein sollte, der wieder auf's Gymnasium durfte. Er hatte es seinerzeit offenbar nicht gerne gesehen, daß mein Bruder von der Oberschule zur Adolf-Hitler-Schule gewechselt war, konnte oder wollte es aber nicht verhindern. Da nun aber die Adolf-Hitler-Schule, in die mein Bruder ja aus freien Stücken gegangen sei - so argumentierte mein Vater - ja nicht mehr existiere, müsse er zu meinen Gunsten auf die weitere schulische Ausbildung verzichten und sich nach einer Lehrstelle umsehen. Ich hatte aber, ehrlich gesagt, gar keine rechte Lust, schon wieder die Schule zu wechseln, zumal ich zu dem Zeitpunkt schon fast zwei Jahre keine bzw. nur Volksschulen besucht hatte und notwendigerweise im Gymnasium mit jüngeren Mitschülern wieder hätte anfangen müssen. Deshalb habe ich den Vater überzeugt, meinen Bruder in die höhere Schule zu schicken, weil der sowieso nur das "Einjährige" (Mittlere Reife) machen und danach einen Beruf ergreifen wollte, ich würde die Volksschule zu Ende machen und dann eine Lehre antreten. So ist es dann auch gelaufen. Mein Bruder hat das Einjährige und danach eine Sparkassenlehre gemacht, sich später in Kursen und Lehrgängen weiter fortgebildet und es bis zum Sparkassendirektor gebracht. Übrigens erhielt ich noch einmal die Chance, meine Oberschulausbildung fortzusetzen, als die Bäuerin, bei der ich in meiner "Linsweger Zeit" regelmäßig und später sporadisch geholfen hatte, mir anbot, die notwendige Nachzahlung und das laufende Schulgeld für mich zu übernehmen. Auch das lehnte ich damals ab, muß aber zugeben, dies im späteren Leben gelegentlich bedauert zu haben.

Ich besuchte also weiterhin die Volksschule in Westerstede und schloß die schulische Ausbildung zu Ostern 1947 zunächst ab und suchte dann krampfhaft nach einer Lehrstelle, vorerst leider vergeblich. Nun gab es damals die Regelung, daß Schulabgänger, die keinen Lehrherrn fanden, nochmals die achte Klasse - eine neunte gab es noch nicht - durchlaufen konnten. Ich nahm also zu Beginn des neuen Schuljahres wieder am Unterricht der achten Klasse teil, obwohl ich mein Abschlußzeugnis bereits in der Tasche hatte.

Lehre und Arbeitslosigkeit

Man muß sich zurückerinnern, daß es in den ersten Nachkriegsjahren immer wieder mal Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gab und damit verbunden einen entsprechenden Lehrstellenmangel. Um eine der raren Lehrstellen zu ergattern, mußte man schon sehr gute Beziehungen haben und die hatten in der Regel nur Einheimische. Als Flüchtlingskind mußte man schon noch eine ganze Portion Glück haben. Ich hatte es dann doch schon bald und konnte am 01. Juni 1947 eine dreieinhalbjährige Lehre als Kraftfahrzeugschlosser antreten. Es war keine Wunschlehre, ich hätte lieber Uhrmacher oder Feinmechaniker gelernt. Aber man mußte eben froh sein, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Ich erhielt sie durch die Bekanntschaft meines älteren Bruders und meines Vetters mit dem Chef der Firma. Es war ein sehr junger Chef, der Vater war in den letzten Kriegstagen bei einem Tieffliegerangriff ums Leben gekommen, und er, der Sohn, hatte dann den Betrieb übernommen. Von dem Geld, das ich in der Lehre bekam (es waren im ersten Lehrjahr 25 Mark, dann in den folgenden 35, 45 und im letzten Halbjahr 55 Mark), durfte ich nur 5 Mark behalten. Nun war das Geld vor der Währungsreform zwar nicht viel wert, der Tauschhandel und die Zigarettenwährung blühten, aber schon, um an Zigaretten zu kommen, brauchte man eben doch Geld. Amerikanische und englische Zigaretten kosteten auf dem Schwarzen Markt ca. 10 bis 12 Mark, deutsche 5 bis 6 Mark. Legal konnte man nur die Zigaretten kaufen, die auf Raucherkarten zugeteilt wurden. Bis zur Währungsreform gab es ja eine strikte Rationierung aller wichtigen Bedarfsgüter. Es gab Lebensmittel-, Kleider-, Kartoffel-, Fischkarten und, und, und... - und eben auch Raucherkarten. Zum Glück rauchte in unserer Familie außer mir (natürlich nur heimlich) niemand, deshalb verkaufte ich im Auftrag meiner Mutter immer unsere Raucherkarten, und ich verkaufte sie an einen Kumpel von mir. Er war Sohn eines Handwerksmeisters, hatte fast immer Geld, und wir haben die Zigaretten dann gemeinsam verraucht. Natürlich haben wir nicht immer amerikanische oder deutsche Zigaretten, "Aktive" wie man sagte, geraucht! Damals hat eigentlich fast jeder Bauer und jeder, der einen Garten besaß, Tabak angepflanzt. Der Tabak wurde getrocknet, fermentiert und geschnitten. Aus gutem Tabak wurden dann Zigaretten gedreht und der schlechtere wurde in die Pfeife gestopft.

Im Juni 1948 wurde die Reichsmark abgeschafft und durch die Deutsche Mark ersetzt (Währungsreform). Jeder bekam zunächst 40 Mark des neuen Geldes (Kopfgeld) und vier Wochen später noch einmal 20 DM. Und plötzlich war in den Geschäften alles da, vorher gab es ja nichts, die Schaufenster waren leer. Zu unserem Betrieb - es war eine Auto- und Fahrradreparaturwerkstatt - gehörte auch ein Geschäft, in dem Fahrräder und Ersatzteile verkauft wurden. Und am Tage nach der Währungsreform gab es auch bei uns plötzlich Reifen, Fahrräder und alle möglichen Ersatzteile. Und ich erinnere mich noch gut daran, daß ich mit den anderen Lehrlingen wochenlang kaum etwas anderes getan habe, als aus Einzelteilen Fahrräder zusammenzubauen. Mit der Währungsreform beginnend, wurde nun auch schrittweise die Zwangsbewirtschaftung abgeschafft, und das Leben begann, sich wieder zu normalisieren.

Obwohl mein Lehrvertrag bis zum 31. Dezember 1950 lief, habe ich bereits am 31.10.1950 die Gesellenprüfung abgelegt und danach bei der gleichen Firma als Geselle gearbeitet. Im ersten Gesellenjahr habe ich 68 Pfennig die Stunde verdient, im zweiten Gesellenjahr 87 Pfennig. Im Januar 1951 bin ich kurzzeitig (etwa 4 Wochen) wegen Arbeitsmangels entlassen worden, habe aber sofort Arbeit als Beifahrer in dem Sägewerk bekommen, in dem mein Vetter als Kraftfahrer tätig war. Danach wurde ich wieder bei meiner alten Firma eingestellt, war aber Ende Januar 1952 wieder arbeitslos. Ich bekam dann Arbeitslosenunterstützung, habe aber daneben auch gearbeitet und mir etwas Geld - keine hohen Summen - nebenbei verdient. Zunächst als Filmvorführer (ich kriegte für jede Filmvorführung 1 Mark), dann eine Zeitlang bei einem Kunstschmied. Gleich zu Beginn der Arbeitslosenzeit habe ich mich durch einen Bekannten breitschlagen lassen, mich bei der Polizei zu bewerben. Die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen warb damals mit Plakaten um Nachwuchs. Die Prüfung war in Oldenburg, und ich wurde angenommen. Während ich auf meine Einberufung wartete, zog meine Mutter mit allen meinen Schwestern und meinem jüngsten Bruder zu meinem Vater, der eine geeignete Wohnung in Bremerhaven gefunden hatte. Mein ältester Bruder, mein Vetter, mein Tante und ich blieben in unserer alten Wohnung in Westerstede.

Mit meiner Einberufung zur Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen am 1. August 1952 nach Münster/Westfalen begann für mich eine neue berufliche Laufbahn, die mit der Zurruhesetzung am 31.03.1993 in Arnsberg/Westfalen endete.

Verlorene Heimat?

Im Jahre 1991, 46 Jahre nach unserer Flucht, habe ich im Rahmen einer Ostpreußenreise meine Heimatstadt Bischofsburg zum ersten Mal wieder aufgesucht. Damals wußte ich bereits, daß das Haus, in dem ich aufgewachsen war, den Kriegsereignissen zum Opfer gefallen war und sich auch sonst einiges verändert hat. Ich muß gestehen, daß es schon ein etwas merkwürdiges Gefühl war, die alten vertrauten Wege zu gehen, zur Schule, zum Sportplatz, zur Kirche und vor allem den Weg zur Siedlung am Wasserturm, wo meine Großeltern gewohnt hatten. Selbstverständlich war ich auch auf dem ehemaligen Hof meines Onkels in Neudims und am Daddai-See. Beim Anblick dieser Örtlichkeiten verspürte ich doch so etwas wie Wehmut, weil ja alles mit Erinnerungen an Verwandte, Freunde und Ereignisse verbunden bleibt. Da meine Frau und meine Tochter mich auf dieser Reise begleiteten, konnte ich ihnen davon erzählen und ihnen zeigen, wo ich meine Kinderzeit verbracht habe. Inzwischen habe ich schon drei weitere Busreisen nach Ostpreußen gemacht, alle unter dem Motto "Bischofsburger besuchen Bischofsburg" . Ich kenne meine Heimatstadt durch Erzählungen der mitfahrenden alten Heimatfreunde heute weit besser als damals und weiß nun erst, wie schön Ostpreußen ist, das wir verlassen mußten. Trotzdem hatte und habe ich nie das Gefühl, etwas verloren zu haben, dem ich nachtrauern müßte. Vielleicht war ich zu jung, um beständige Bindungen an meine Vaterstadt zu entwickeln, möglicherweise auch zu arm. Vermutlich ist es so, "daß Rittergüter mehr Heimatgefühl binden als Drei-Zimmer-Wohnungen". Verlorene Heimat? Bischofsburg ist und bleibt mein Geburtsort, mit dem mich Kindheitserinnerungen verbinden. Doch als Heimat empfinde ich schon eher Westerstede, wo ich meine Schulzeit beendet habe, eine Berufsausbildung erhielt, meine Jugendzeit verbrachte. Und meine eigentliche Heimat ist Arnsberg geworden, die Stadt, in der ich mich wohlfühle, in der ich eine Familie gegründet und die längste Zeit meines Lebens verbracht habe.

Heinrich Ehlert, Alter Soestweg 65, 59821 Arnsberg

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