Die Französischprüfung: Der Superprüfling

Wie ich beim mündlichen Examen der Mittleren Reife (Einjähriges) meinen Französisch-Lehrer leimte

Von Dr. Hans Kulbatzki

Die mündliche Prüfung der Mittleren Reife an der Höheren Schule in Bischofsburg fand im Jahre 1928 am 20. März statt. Mein Bruder Felix und ich zählten nach sechsjährigem Besuch der Schule zu den Prüflingen. Das mündliche Prüfungsfach wurde den Untersekundanern vorher bekanntgegeben. Ich sollte in Französisch geprüft werden. Am 19.3., dem Tag vor der Prüfung, bestand der Unterricht allgemein in ganz lockerer Form, man könnte ihn fast als Unterhaltung bezeichnen, denn die Lernprozesse waren ja abgeschlossen. Merkwürdig gestaltete jedoch unser Französisch-Pauker, Studienassessor Schmidt, seine für uns letzte Französisch-Stunde. Er fragte einige französische Vokabeln und Redewendungen ab, die zu dem bisher verarbeiteten Stoff in keiner Beziehung standen. Ich schrieb diese Vokabeln und Sentenzen auf. Als vorgesehener Französisch-Prüfling bewog mich nun diese letzte Französisch-Stunde zu besonderem Nachdenken. So dämmerte es mir im Hinterkopf, daß diese merkwürdige Bereicherung unseres französischen Sprachgutes nur mit der bevorstehenden Prüfung am nächsten Tag zusammenhängen könne.

Die Prüfung lief allgemein wie folgt ab: Der Prüfling bekam einen bestimmten Abschnitt aus einer französischen Lektüre vorgelegt. Er konnte diesen Text im Sinne der drei Phasen der Prüfung "bearbeiten". Zuerst mußte in der Prüfung der zugewiesene Abschnitt gelesen werden, dann mußte er ins Deutsche übersetzt werden, und schließlich mußte der Inhalt französisch frei nacherzählt werden.

Am Nachmittag des 19.3. zu Hause in der Ringstraße 14 überlegte ich nochmals das Verhalten unseres allgemein beliebten Studienassessors und kam dabei auf die etwas verstiegene Idee, ob er womöglich eine zur Zeit in der Obertertia behandelte Lektüre als Prüfungsstoff zu verwenden im Sinne habe. Ich ging zu dem Obertertianer Gerhard Grunau, der bloß ein paar Häuser weiter in der Marktstraße wohnte, legte ihm die von mir am Vormittag mitgeschriebenen Vokabeln vor und fragte ihn, ob er vielleicht diese Wörter kenne. Er betrachtete sie intensiv und sagte: Ja, die kenne ich, sie kommen in unserer Lektüre, einer Novelle von Prosper Merimee vor. Ich sagte, das sei wunderbar, und bat ihn um sein Exemplar der Lektüre. Da hast Du Pech, sagte er, denn der Studienassessor habe alle Exemplare eingesammelt. Aha, dachte ich, die braucht er für die morgige Prüfung. Da ich so leicht nicht aufgebe, fragte ich Gerhard, ob nicht vielleicht ein Schüler heute beim Unterricht gefehlt habe, und er somit dessen Exemplar nicht habe einsammeln können. Er dachte scharf nach und sagte: Du hast Glück, der Gerhard Rawa (Sohn des Volksschulrektor Rawa) fehlte heute. Ich hoffnungsfreudig in die Klefeldtstraße zum Wohnhaus Rawa. Als man mir nach dem Klingeln öffnete, sagte ich, daß ich den Gerhard sprechen möchte. Er sei krank, sagte man mir. Das weiß ich, erwiderte ich, und das ist für mich auch gut, ich muß ihn sprechen. Ich durfte den kranken Gerhard besuchen. Ich erzählte ihm, worum es mir gehe, und bat ihn um sein Exemplar der Merimee-Novelle. Er gab es mir, und ich ging hocherfreut nach Hause.

In der Lektüre fand ich bald die Stellen, in denen die notierten Vokabeln vom Vormittag enthalten waren. Nun ging es ans Werk.

Da wir vier Prüflinge waren, mußte ich einen entsprechend langen Text bearbeiten. Ich las und übersetzte, wobei mir das angefügte Vokabularium sehr hilfreich war, und trug mehrmals den erarbeiteten französischen Text freihändig meinem Bruder zur Kontrolle vor. So gewappnet, fühlte ich mich schon als bestandener Prüfling.

Am nächsten Tag, am 20.3., wurden dann die Französisch-Prüflinge aufgerufen; jeder bekam einen Abschnitt aus dem mir bereits bekannten Prosper Merimee-Text zugewiesen. Die Prüfung konnte beginnen. Ich tat so, als ob ich mich mit dem Text beschäftige. Als ich dann an der Reihe war, las ich den verlangten Text fehlerlos und übersetzte ihn ebenso elegant. Herrn Schmidts Augen, die einen Basedow-Effekt hatten, wurden immer größer und quollen stark heraus. Dann erzählte ich den Inhalt französisch freihändig und zwar in einer Manier, die den Studienassessor sprachlos machte und ihn fast zittern ließ. Im Text kam das Wort malgré = trotz vor. Er fragte mich, ob ich noch andere Wörter mit der Silbe gré kenne. Im mir bekannten Vokabularium der Lektüre war erklärt: bon gré malgré = wohl oder übel und de bon gré = gern. Ich zog meine Stirn in Denkerfalten und täuschte schweres Nachdenken vor. Dann erklärte ich die mir bereits bekannten Wortverbindungen. Herr Schmidt zuckte zusammen, sagte nichts mehr und entließ mich. Ich hatte meine Trümpfe gespielt.

Am Abend wurde in der Konditorei Brandtner mit dem Lehrerkollegium und den Eltern der Prüflinge gefeiert. Ich erzählte meinem verehrten Lehrer meine Eskapade. Er gab zu, sich über mein Verhalten beim Examen gewundert zu haben. Er konnte mir jedoch nichts an haben, denn ich hatte ja in der Prüfung keine unerlaubten Hilfsmittel benutzt.

Als wir nach dem Kriege - etwa vierzig Jahre nach dem geschilderten Ereignis - bei einem Bischofsburger Schülertreffen in Kassel uns noch einmal über den 20.3.1928 unterhielten, erzählte mir Herr Schmidt, daß er nach diesem Vorfall als Prüfungstext nie mehr eine Lektüre aus seinem Unterrichtsbereich verwendet habe, und daß ich somit potentiellen Nachahmern meiner Taktik den Weg versperrt habe.

Ich war bei seiner Beerdigung in Gevelsberg im Mai 1978. Requiescat in pace.

Dr. Hans Kulbatzki, aus: Rößeler Heimatbote, April 1992

zur Übersicht

Das könnte Dich auch interessieren …