Vor 50 Jahren
Niederschrift nach Erzählungen der Großeltern
Von Sean Kunz
In den ersten Monaten des Jahres 1995 wurde in den Zeitungen über die Zeit vor 50 Jahren berichtet. Meine Großeltern erzählten mir von den Geschehnissen, die sie während des Krieges und vor Kriegsende erlebt haben. Meine Oma lebte mit ihrer Mutter und drei jüngeren Geschwistern in Dortmund. Sie mußten fast jede Nacht im Luftschutzkeller oder im Luftschutzbunker zubringen, weil die Stadt laufend bombardiert wurde. Jeden Abend mußten ihre Kleidungsstücke so hingelegt werden, daß sie bei Fliegeralarm in Windeseile ohne Licht angezogen werden konnten. Eines Nachts gingen sie bei Fliegeralarm in den Luftschutzbunker, in dem meine Oma immer Atemnot bekam. Als sie nach der Entwarnung den Bunker verließen, fanden sie ihr Haus nicht mehr. Eine Luftmine hatte es getroffen und in Staub verwandelt. Sie fanden in Dortmund keine Bleibe mehr und fuhren zu den Eltern der Mutter nach Heißum, einem kleinen Dorf in der Nähe von Goslar. Dort war vom Krieg nichts zu spüren und es gab auch genug zu essen.
Mein Großvater lebte mit seiner Mutter, seinen beiden jüngeren Geschwistern und seiner 82jährigen Großmutter in Bischofsburg, einer Kleinstadt in Ostpreußen. Hatten sie bis Ende 1944 fast überhaupt nichts vom Krieg bemerkt, so änderte sich dieser Zustand in dramatischer Weise im Januar 1945. Vor den angreifenden russischen Truppen mußten sie aus ihrer Heimatstadt flüchten. Sie konnten nur das Notwendigste mitnehmen. Bei eisiger Kälte brachte sie ein Güterzug von Bischofsburg nach Bartenstein, einer kleinen ostpreußischen Stadt. Dort war Endstation, denn die Russen hatten Ostpreußen eingeschlossen und eine Weiterfahrt in den rettenden Westen unmöglich gemacht. Wollten sie sich vor den Russen retten, dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu Fuß in Richtung Frisches Haff und dann über das zugefrorene Haff nach Pillau zu gehen, um von dort mit Schiffen in Sicherheit gebracht zu werden. Mein Großvater, seine Mutter, seine Geschwister und die alte Oma haben auf dem Weg nach Pillau viel Elend gesehen und auch selbst kennengelernt.
Nach einer Nacht In den kalten Räumen eines leerstehenden Hauses und einem kärglichen Frühstück machten, sie sich auf Weg zum Frischen Haff. Ein unendlicher Zug vermummter Gestalten, die ihr letztes Hab und Gut auf Schlitten zogen, ein kleines Kind an der Hand und einen Säugling im Kinderwagen marschierten bei eisiger Kälte und Schneesturm Richtung Frisches Haff. Oft mussten sie in den mit Schnee zugewehten Straßengraben, um zur Front fahrenden Fahrzeugen Platz zu machen.
Das Schlimmeste an diesem Marsch war, dass es nichts zu essen und zu trinken gab. Alte Leute setzten sich vor Erschöpfung an den Straßenrand in den tiefen Schnee, um sich auszuruhen und dann wieder weiter zu ziehen. Die kleinen Kinder und die Säuglinge hatten es am Schwersten. Es gab für sie keine Milch und kein warmes Essen. Viele von ihnen sind auf diesem Marsch verhungert und erfroren. Mein Großvater erzählte mir, daß die Mütter die Kinderwagen mit den toten Säuglingen zwischen die Gräber auf die Friedhöfe stellten, da eine Beerdigung wegen des tiefgefrorenen Bodens unmöglich war. Die Mütter weinten um ihre toten Säuglinge, mussten aber mit ihren anderen Kindern weiterziehen. Keiner weiß, was mit den Toten geschehen ist.
Nicht nur Hunger und Kälte machten den Marsch zur Strapaze. Es waren auch die russischen Flugzeuge, die den Elendszug beschossen und bombardierten. Wenn die Fugzeuge kamen, warfen sich alle in den Straßengraben. War der Angriff vorüber, dann ging es wieder weiter. Jeder dieser Angriffe brachte vielen den Tod. Sie blieben einfach im Graben liegen, denn keiner hatte noch die Kraft, sie zumindest mit Schnee zu bedecken.
Auf diesem Marsch feierte mein Großvater seinen 15. Geburtstag mit trockenem Brot und einem Stückchen Speck. Kälte und Hunger machten viele krank. So auch meinen Großvater. Er hatte sich eine schwere Erkältung zugezogen, die auf einem abgelegenen Bauernhof mit heißem Tee und Umschlägen behandelt wurde.
Noch nicht wieder gesund mußte es weiter gehen, denn die russischen Truppen kamen immer näher. Nach mehreren Tagen Fußmarsch mit Übernachtungen in kalten Scheunen erreichten sie Zinten. Eine kleine Stadt etwa 25 Kilometer vor dem Haff. Sie fanden Unterkunft in einem schon mit vielen Flüchtlingen belegten Haus und konnten sich ein paar Tage von den Strapazen des Marsches erholen. Mein Großvater hat mir oft erzählt, daß er die schrecklichen Erlebnisse auf dem Marsch von Bartenstein nach Zinten, nie vergessen kann. Durch Zinten zogen viele Flüchtlinge zu Fuß und mit Pferdewagen. Die vor Erschöpfung nicht mehr weiterkonnten, ruhten sich vor ihrem Weitermarsch zum Haff für ein paar Tage in den noch nicht zerstörten Häusern aus.<
Es blieb nicht aus, daß Zinten von russischen Tieffliegern beschossen und bombardiert wurde. Bei diesen Angriffen spielten sich unvorstellbare Szenen ab. Menschen liefen um ihr Leben und suchten Schutz in den nicht zerstörten Häusern. Durchgehende Pferdegespanne, vor Todesangst schreiende Menschen, Explosionen und das Motorengedröhn der Tiefflieger machten jeden Fliegerangriff zu einem Chaos. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein. Viele Menschen verloren bei den Angriffen ihr Leben. Bei einem dieser Angriffe wurde das Haus, in dem die Familie meines Großvaters einige Tage eine Bleibe gefunden hatte, von einer Bombe getroffen. Sie kamen mit dem Schrecken davon, verloren aber den Rest ihrer bis hierher gebrachten Habseligkeiten. Sie besaßen nur noch das, was sie gerade angezogen hatten.
Nach mehreren Ruhetagen mußten sie, weil die russischen Truppen immer näher kamen, Zinten verlassen. Bei eisiger Kälte und Schneesturm machten sie sich zu Fuß auf den Weg zum Frischen Haff. Auf diesem Weg erlebten sie noch einmal alles Schreckliche wieder, das auf dem Marsch von Bartenstein nach Zinten geschehen war. Nach mehreren Tagen erreichten sie abends das Haff. Da die Überquerung des Haffes bei Dunkelheit nicht erlaubt war, mußten sie eine weitere Nacht bei eisiger Kälte im Freien verbringen. Am nächsten Morgen sollte der Gang über das schon auftauende Eis gewagt werden. Vor der Auffahrt auf das Eis hatten sich viele Flüchtlinge gesammelt. Die mit Pferdewagen Geflüchteten mussten sich vom mitgenommenen Hab und Gut trennen, um für Mütter mit ihren kleinen Kindern und den alten Leuten Platz zu schaffen. Leider reichten die Plätze auf den Pferdewagen für alle zu Fuß ankommende Flüchtlinge nicht aus. Viele mussten sich zu Fuß auf den Weg über das Eis zur Nehrung machen. Mein Großvater und seine Mutter sind zu Fuß und seine Mutter mit seinen beiden Geschwistern im Pferdewagen über das Eis gezogen.
Wie es auf dem Platz vor der Auffahrt auf das Eis aussah, ist nicht in Worte zu fassen. Am frühen Vormittag begann der Marsch über das zugefrorene Haff. Die Älteren werden den Marsch über das Eis nie vergessen. Viele Trecks wurden von russischen Tieffliegern beschossen und bombardierte Menschen und Tiere waren den Angriffen schutzlos ausgeliefert. Nach jedem Angriff gab es einen kleinen Halt, denn der abgesteckte Weg war durch Bombenlöcher und zusammengeschossene bzw. eingebrochene Pferdewagen, von denen nur noch die Deichseln aus dem Eis ragten, versperrt. Ein neuer Weg mußte abgesteckt werden. Viele tote Menschen und Tiere säumten den Weg zur Nehrung. Nach einem den ganzen Tag dauernden qualvollen Marsch erreichten sie die Nehrung. Am Nehrungsufer war das Eis schon brüchig geworden und trug die Wagen nicht mehr. Die letzten Meter zum Ufer mußten die zu Fuß gehenden das eisige Wasser durchwaten. Sie froren in ihrer nassen Kleidung und obwohl sie wegen der russischen Flieger kein Feuer machen durften, um ihre nasse Kleidung zu trocknen und sich zu wärmen, brannten bald viele Feuer. Die auf der Nehrung angekommenen Flüchtlinge hatten in den Wochen ihrer Flucht soviel mitgemacht, daß sie sich vor Fliegerangriffen nicht mehr fürchteten. Warum auch. Sie hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Der Weg über das zugefrorene Haff und die Nacht auf der Nehrung werden unvergeßlich bleiben.
Bei eisiger Kälte war trotz der wärmenden Feuer an Schlafen auf dem gefrorenen Boden nicht zu denken. So machten sich mein Großvater und sein Bruder auf den Weg quer über die Nehrung zur Ostsee. Am Ufer suchten sie Bernstein. Sein Bruder fand ein ziemlich großes Stück, das er seiner Schwester schenkte, die sich daraus später einen Anhänger machen ließ. Beide waren froh, als sie nach längerem Umherirren den Lagerplatz und ihre Angehörigen wiederfanden. Nach einem kärglichen Frühstück setzten sie auf dem grundlos gewordenen Weg ihren Marsch nach Pillau, einem ostpreußischen Ostseehafen, fort. Dort angekommen, wurden sie in ein noch nicht durch russische Artillerie oder Fliegerangriffe zerstörtes Haus eingewiesen. Sie hatten nach langer Zeit wieder ein festes Dach über dem Kopf und das Rote Kreuz versorgte sie mit warmem Essen. Mein Großvater und seine Mutter gingen zum Hafen um auszukundschaften, wann das nächste Schiff Richtung Westen ausläuft. Sie hatten eins gefunden, das am nächsten Morgen den Hafen mit vielen Flüchtlingen verlassen sollte. Am frühen Morgen machten sie sich auf den Weg zum Hafen. Vor dem Schiff, einem alten Handelsdampfer, hatten sich etwa 5000 Flüchtlinge versammelt, die alle mitwollten. An der Anlegerbrücke standen Militärpolizisten. Sie suchten nach Deserteuren. Sie ließen alle schon 15jährigen Jungen nicht auf das Schiff. Sie sollten an die Front, um gegen die Russen zu kämpfen. Meinen Großvater wollten sie auch nicht auf das Schiff lassen. Seine Mutter machte den Polizisten mit lauten Tönen klar, daß, wenn ihr Sohn nicht auf das Schiff gelassen wird, die ganze Familie vor der Anlegerbrücke stehen bleibt und keine Macht der Welt kann sie von diesem Entschluß abbringen. Ein älterer Polizist hatte Mitleid und ließ die gesamte Familie auf das Schiff. Sie wurden in den unteren Laderaum eingewiesen und meinem Großvater war klar, daß bei einem Torpedotreffer ein Entkommen aus diesem Verlies nicht möglich war. Es blieb ihnen aber nichts anderes übrig, als sich in das Gegebene zu fügen. Als alle für das Schiff bestimmten Flüchtlinge an Bord waren, legte es ab und verließ unter Artilleriefeuer Pillau.
Die Schiffsfahrt war in Danzig zu Ende. Sie waren froh, daß ihr Schiff nicht wie viele andere von russischen U-Booten und Flugzeugen angegriffen wurde. Für die kleinen und großen menschlichen Bedürfnisse waren im Laderaum des Schiffes Fässer aufgestellt, die bald voll waren. Es blieb den Menschen nichts anderes übrig, als ihre Notdurft neben den Fässern zu erledigen. Schamgefühle gab es nicht. Es blieb nicht aus, daß sich im Laderaum bald ein furchtbarer Gestank ausbreitete und alle waren froh, das Schiff verlassen zu können. In Danzig standen Züge bereit, die die Flüchtlinge durch das noch nicht von russischen Truppen abgeschnittene Pommern in den sicheren Westen brachten. Wer Verwandte oder Bekannte im Westen hatte, erhielt Fahrkarten zu deren Wohnorten. Eine Nichte der Mutter meines Großvaters wohnte in Heißum in der Nähe von Goslar und dorthin wollten sie.
Fünf Wochen nach ihrer Flucht aus Ostpreußen kamen sie in Heißum, das ihnen eine zweite Heimat wurde, an. Sie werden die schrecklichen Geschehnisse auf ihrem Fußmarsch bei Scheestürmen über vereiste Straßen und den Marsch über das Eis des 15 Kilometer breiten Frischen Haffes niemals vergessen.
Sean Kunz, Clausthal-Zellerfeld, Mai 1995