Erinnerungen an eine schöne Jugendzeit

Von Kurt Kunz

Vom nordwestlichen Stadtrand bis zum Stadtwald erstreckte sich ein hügeliges Gelände mit der höchsten Erhebung, dem "Kahlberg" und dem "Gutshof Kahlberg", im Mittelpunkt. Es gab mehrere Wege, die in dieses Gelände und zum Stadtwald führten. Zwei, die von vielen Spaziergängem und Radfahrern benutzt wurden, sollen genannt werden.

Von der Stadt kommend überquerte man den Bahnübergang Rößeler Straße, ging bzw. fuhr vorbei an den Schrebergärten, dem Schützenhaus und weiter durch den Schützenweg, an dessen Ende eine Allee mit sandigem Untergrund begann, die vorbei am Gutshof und dem Kahlberg in den Stadtwald führte. Eine weitere Möglichkeit, in das Gelände und in den Stadtwald zu gelangen, war der Weg vorbei am Wasserturm, durch die Waldstraße, an deren Ende ein Sandweg begann, der durch den Gutshof führte und in die schon genannte Allee mündete.

Im Stadtwald, Bischofsburgs grüner Lunge, suchten viele Ruhe und Erholung. Beliebt waren die Treffen in der Revierförsterei Labuch bei Förster Lork. An Sonn- und Feiertagen zogen bei schönem Wetter viele Familien in den Stadtwald und zur schon genannten Försterei. Vor der Försterei waren Holztische und Bänke aufgestellt, die Spaziergänger und Radfahrer zum Verweilen einluden. Dort ruhten sie sich aus und ließen sich den mitgebrachten Kaffee und Kuchen gut schmecken.

Es gab viel zu erzählen über Ereignisse in der Stadt und in den Familien. Die Kinder konnten dort nach Herzenslust herumtollen und waren traurig, wenn es wieder nach Hause ging. Bei Förster Lork knüpften die älteren Mädchen und Jungen manch zarte Bande, die oft zum Traualtar führten. Viele werden noch oft an die schönen Stunden in der Försterei zurückdenken.

Das Gelände zwischen Stadtrand und Stadtwald war bestens geeignet für bestimmte Freizeitaktivitäten wie z.B. das Segelfliegen. Viele am Segelflugzeugmodellbau interessierte Jungen bauten unter Anleitung von Herrn Kilian, er war Lehrer an der katholischen Volksschule, im Werkraum der Schule Segelflugzeuge. Lehrer Kilian verstand es, die Jungen für den Bau von Segelflugzeugen zu begeistern. Er erklärte ihnen den Umgang mit Laubsäge, Hobel und Bohrer und half mit Rat und Tat beim Verleimen der Spanten, Holme und Rippen. Das größte Vollrumpfsegelflugzeug, das gebaut wurde, war der "Albatros". Jeder Anfänger mußte zuerst den einfachen "Gleiter" bauen. War ihm dieses geglückt, dann ging es an den Bau von Vollrumpfsegelflugzeugen. Mit großer Geduld und Hilfe von Jungen, die solche Modelle schon gebaut hatten, wurden verschiedene Typen dieser Segelflugzeuge angefertigt. Jeder Junge war stolz, wenn er sein selbstgebautes Segelflugzeug in den Händen hielt.

Wenn immer das Wetter es erlaubte, trafen sich vom Frühjahr bis in den Herbst hinein die Segelflugzeugmodellbauer auf dem Kahlberg. Sie ließen dort ihre Segelflugzeuge fliegen und freuten sich über das Gleiten und Kurvendrehen ihrer Modelle.

Für das Segelfliegen stand ihnen eine G 38, eine sogenannte "Besenstielkiste" ohne Federkurve, zur Verfügung. Vor den Rutschern und Flügen mußte der Segler und das Startseil von der Segelflugzeughalle in der Rothfließer Chaussee mit einem von Hand gezogenen Transportwagen durch die Waldstraße zum Kahlberg bzw. anderen kleineren Hügeln transportiert werden. Von den kleineren Hügeln machten die 14 bis 16 Jahre alten Jungen kleine Rutscher. Sie dienten dazu, sich mit der Bedienung der Höhen- und Seitenruder vertraut zu machen und Flugängste abzubauen. Nach 25 Rutschern war es dann für die über 16 Jahre alten Jungen soweit. Der erste kleine Flug konnte beginnen. Etwas ängstlich und mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend setzte sich der Flugschüler in den Pilotensitz und wurde angeschnallt. Zusammen mit Herrn Kilian, dem Fluglehrer, überprüfte er die Funktionsfähigkeit des Höhen- und Seitenruders. Das ausziehbare Startseil wurde eingehängt, die Haltemannschaft ergriff die am Ende des Rumpfes angebrachten Halteseile und der Fluglehrer hielt die Tragflächen in Waage. Nach dem Abfragen der Startbereitschaft gab der Flugschüler der Startmannschaft das Kommando zum Ausziehen des Startseiles. Wenn nach Meinung des Fluglehrers das Startseil eine ausreichende Spannung hatte, um den Segler in die Luft zu bringen, kam das Kommando an die Haltemannschaft "Leinen los" und der Flug begann. Nach einem kurzen Geradeausflug setzte der Flugschüler zur Landung an. Sein erster Flug war zu Ende und die Erde hatte ihn wieder. Nachdem die für ihren ersten Flug vorgesehenen Jungen ihre Flüge gemacht hatten und froh waren, wieder festen Boden unter ihren Füßen zu haben, wurde der Segler auf den Transportwagen gesetzt und zur Segelflughalle zurückgebracht. Um bei weiteren Flügen das harte Aufsetzen bei der Landung zu vermeiden, wurde unter dem Rumpf eine Federkurve montiert, mit der eine sanfte Landung möglich war.

Immer wenn das Wetter es erlaubte und günstige Winde für eine gute Thermik sorgten, ging es zum Fliegen auf den Kahlberg. Die Geradeausflüge gingen immer weiter und so langsam begann das Kurvenfliegen. Viele Jungen hatten damit Probleme. Ihnen fehlte zum Kurvenfliegen das nötige Fluggefühl und sie mußten das Segelfliegen aufgeben. Andere waren vom Fliegen begeistert und konnten nicht genug davon bekommen. Nach vielen Flügen vom Kahlberg machten sie in Segelflugschulen ihre Segelflugscheine. Sie waren glücklich, wenn sie zur berühmten Segelflugschule in Rossitten auf der Kurischen Nehrung kamen, um dort ihre Segelflugscheine zu erwerben. Es war für sie ein einmaliges Erlebnis, über die Wanderdünen und das Kurische Haff zu gleiten. Sie werden die Zeit in Rossitten nie vergessen. Viele, die am Kahlberg das Segelfliegen erlernt haben und die Segelflugscheine erwarben, meldeten sich zur Luftwaffe und lernten dort das Fliegen mit Motorflugzeugen.

Das Gelände zwischen Stadtrand und Stadt wurde von den in Bischofsburg stationierten Soldaten als Übungsgelände benutzt. Sie legten Schützengräben, kleine Erdbunker und Unterstände an, die Angriffs- und Verteidigungsübungen dienten. Nach diesen Übungen machten sich die Jungen zum Suchen der von den Soldaten zurückgelassenen Platzpatronenhülsen auf. Jeder zählte seine gefundenen Hülsen und wer die meisten gefunden hatte, war der Held des Tages.

An den Tagen, an denen die Soldaten keine Übungen machten, übernahmen die Mädchen und Jungen aus dem angrenzenden Stadtrandgebiet das Gelände. Die Jungen spielten, wie es damals üblich war, mit Holzgewehren in den Schützengräben und kleinen Erdbunkern Krieg auf ihre Art. Beim Versteckspielen war die Tannenschonung zwischen der Waldstraße und dem Gutshof Kahlberg ein ideales Versteck. Es war den Suchenden oft nicht möglich, die in der Schonung versteckten Spielkameraden zu finden. Links vom Sandweg, der von der Waldstraße zum Gutshof führte, gab es eine kleine ebene Wiese. Dort spielten die Jungen aus der Wald-, Tannenberg- und Wasserturmstraße oft Fußball. Es ging hart zur Sache, wenn die Straßenmeisterschaft ausgespielt wurde. Im Winter waren der Kahlberg und die umliegenden kleineren Hügel ein ideales Gelände zum Schlitten- und Skifahren.

Für die Jungen und Mädchen war es eine große Gaudi, alleine oder auf hintereinander gebundenen Schlitten die kleinen Hügel hinabzufahren. Die Mutigsten fuhren den "Steilhang" des Kahlbergs hinunter. Stürze mit kleinen Blessuren waren bei diesen Abfahrten manchmal nicht zu vermeiden. Viele Mädchen und Jungen haben in dem hügeligen Gelände um den Kahlberg auf Tonnenbrettern Skifahren gelernt. Die einfachen Bindungen, auf die Tonnenbretter aufgenagelte Leder- oder Gummistreifen, führten oft zu Stürzen mit Knochenbrüchen als Folge. Die älteren Jungen und Mädchen, die richtige Skier mit festen Bindungen hatten und so einigermaßen Skilaufen konnten, zog es zum Langlauf ins Gelände und zu "Abfahrten" auf den Kahlberg. Vom Kahlberg gab es zwei Abfahrtsmöglichkeiten. Eine in Richtung der Bahnstrecke und eine zweite in den Stadtwald hinein.

Die Schwierigkeit bei der Abfahrt auf dieser Strecke lag darin, daß am Waldrand eine Brücke, die über einen kleinen Bach führte, überquert werden mußte. Um über die Brücke zu kommen, mußte vor dem Waldrand eine scharfe Linkskurve gefahren werden. Viele kamen mit der Linkskurve nicht zurecht, verfehlten die Brücke und landeten in der Bachböschung. In vielen Fällen kam es bei solchen Unfällen zu "Spitzensalat". Das wurde aber nicht so tragisch genommen. Immer wieder versuchten sie die Linkskurve zu fahren, um über die Brücke zu kommen. Manchen Skifahrern gelang dieses trotz vieler Versuche nicht, und sie zogen es vor, ihre Abfahrten vom Kahlberg in Schußfahrt zu machen. Es gab auch Skifahrer, die den Langlauf dem Abfahrtslauf vorzogen. Auch dafür war das Gelände bestens geeignet.

Mir wurde von ehemaligen Mitarbeitern der Kreisverwaltung berichtet, daß die einzelnen Abteilungen Ausflüge zum Schlitten- und Skifahren in das Gelände um den Kahlberg gemacht haben. Frohsinn und Heiterkeit sollen bei diesen Ausflügen einen hohen Stellenwert gehabt haben. Romantisch soll es zugegangen sein, wenn sie sich bei Mondschein durch das verschneite Gelände auf den Heimweg machten.

Froh und unbeschwert haben Jungen, Mädchen und Erwachsene im Stadtwald und in der Gegend um den Kahlberg im Sommer und Winter schöne Stunden erlebt, an die sie bestimmt noch oft zurückdenken.

Heute hat das Gelände zwischen dem nordwestlichen Stadtrand und dem Stadtwald ein anderes Aussehen als vor 1945. Segelfliegen von den dem Kahlberg vorgelagerten Hügeln und vom Kahlberg selbst ist nicht mehr möglich, denn auf den Hügeln und dem Kahlberg sind Sträucher, Büsche und Bäume gewachsen. Unterhalb der Hügel und des Kahlbergs ist in Richtung der Bahnstrecke ein kleiner See entstanden, der von Wildenten und Schwänen bevölkert wird und an dem viele Polen ihr Anglerglück versuchen. Aus der schon erwähnten kleinen Tannenschonung ist ein hoher Tannenwald geworden. Auch den Gutshof Kahlberg gibt es nicht mehr. Alle Gebäude sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Ruinen des Gutshauses sind von Bäumen, Sträuchern und hohem Unkraut überwuchert. Der Stadtwald schiebt sich immer weiter auf den Kahlberg hin vor und es wird nur noch eine Frage der Zeit sein, wann Kahlberg und die anderen Hügel total mit Bäumen, Büschen und Sträuchern bewachsen sind.

Bezogen auf das Gelände zwischen Stadtrand und Stadtwald bewahrheitet sich der Spruch: "Nichts ist so beständig wie die Veränderung".

Kurt Kunz, Dörntener Str. 11, 38704 Liebenburg-Heißum

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